Die Schlacht ist in vollem Gange, ehrenhafte Ritter und unerschrockene Krieger stürzen sich ins Gefecht. Verluste, Blut und Tod auf beiden Seiten. Erst vor wenigen Tagen hatten die Invasoren die Burg des Feindes eingenommen, doch dieser schlägt nun mit gnadenloser Härte zurück. Lange hält das Bollwerk nicht mehr stand. Doch im Augenblick der drohenden Niederlage fällt eine Flagge vom Himmel, die Soldaten schöpfen neuen Mut und vernichten die heranstürmenden Angreifer. Die Burg kann gehalten werden, der Krieg ist gewonnen. Was sich liest wie eine Szene aus einer Fantasyschlacht, ist in Wahrheit die legendäre Geburtsstunde der dänischen Flagge.
Wir schreiben das Jahr 1219. Der christliche König von Dänemark, Waldemar II., verfolgt expansionistische Ziele und versucht, ein Ostsee-Imperium zu errichten. Dem Papst Innozenz III. verspricht er seine Unterstützung für den Fünften Kreuzzug im Heiligen Land; im Gegenzug legitimiert das Oberhaupt der Kirche die Kriegstreiberei des dänischen Herrschers. Unter dem Vorwand der Erfüllung heiliger Pflichten segelt Waldemar II. gemeinsam mit seinem Vasallen Witslaw, dem Fürsten von Rügen, über die Ostsee. Ihr Ziel ist Lyndanisse, heute als Tallinn, die Hauptstadt Estlands, bekannt. Das Land soll von den sogenannten Heiden befreit und unter christliche Führung gebracht werden.
Die Dänen erreichen schließlich die baltische Küste und besetzen die Burg von Lyndanisse. Doch am 15. Juni schlagen die Esten zurück. Mit unbändiger Willenskraft und einer gehörigen Portion Überraschung gewinnen sie schnell die Oberhand gegen unvorbereitete dänische Soldaten. Waldemar II. und seinen Mannen droht eine Niederlage, sie erflehen göttlichen Beistand… und werden erhört. Der wolkenverhangene Himmel reißt auf und eine rote Flagge mit weißem Kreuz fällt hernieder. Die Dänen betrachten dies als Zeichen des Allmächtigen, ihre Moral steigert sich ins Unermessliche und sie schlagen die Esten vernichtend. Die Schlacht ist gewonnen und der Dannebrog, die Flagge der Dänen, war geboren.


(Christian August Lorentzen)


Diese Erzählung über die Entstehung der rot-weißen Fahne unseres nördlichen Nachbarlandes ist natürlich eher ins Reich der Legenden einzuordnen. Dennoch gilt der Dannebrog heute als eine der ältesten noch im Gebrauch befindlichen Staatsflaggen der Welt, auch wenn er offiziell erst 1625 angenommen und 1854 zum Nationalsymbol erklärt wurde. Betrachtet man die Anfänge der Flagge aus einer historisch-wissenschaftlichen Perspektive, so kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht, wie sich der Dannebrog tatsächlich herausgebildet haben könnte.
Eine Variante besagt, die dänische Flagge geht auf den heutigen Ritterorden der Malteser (damals noch Johanniter) zurück. Die Kreuzfahrer kämpften nachweislich ab dem 12. Jahrhundert in den Heeren des Königreichs Dänemark und verwendeten ebenfalls ein weißes Kreuz auf rotem Grund als Banner. Das gleiche Symbol diente in der selben Zeit dem Heiligen Römischen Reich als Kriegsstandarte. Außerdem war die Nutzung des aussagekräftigen christlichen Zeichens für Schiffsflaggen im mittelalterlichen Europa weit verbreitet. Neben den Dänen fuhren auch die Engländer und Franzosen unter derartigen Kreuzfahnen.
Wie auch immer der legendäre Dannebrog entstanden sein mag, Fakt ist, dass er durch die dänische Dominanz in jener Zeit über weite Teile Nordeuropas verbreitet wurde und zahlreiche regionale Flaggen inspirierte. Das auf der Seite liegende Kreuz ist deshalb heute auch als skandinavisches Kreuz bekannt. Der spätmittelalterliche, nordeuropäische Staatenbund der Kalmarer Union (bestehend aus Dänemark, Norwegen, Schweden, Island und Teilen Finnlands) verwendete ein rotes Kreuz auf gelbem Grund; heute wird das Zeichen auch als Symbol der nordischen Wertegemeinschaft betrachtet.
Nicht nur die Fahnen der souveränen Nationen Schweden, Norwegen, Finnland und Island haben ihren Ursprung im Dannebrog, sondern auch jene von abhängigen Gebieten und innerstaatlichen Regionen wie zum Beispiel der zu Dänemark gehörenden Färöer-Inseln, der finnischen Inselgruppe Åland oder der historischen schwedischen Provinz Schonen, die früher unter dänischer Herrschaft stand.


Urheber: Alphathon, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nordic_cross_flags_of_Northern_Europe.svg
Änderungen: Hinzufügen der Länder-/Regionalnamen
Auch über Skandinavien hinaus beeinflusste das seitlich liegende Kreuz etliche Regionalflaggen, beispielsweise in Nordengland (West Yorkshire) und Schottland (Shetland, Orkney). Selbst für Deutschland war eine Staatsflagge mit dieser Symbolik geplant. Für den Fall, dass das Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 erfolgreich verlaufen wäre, entwarf Josef Wirmer eine schwarz-rot-goldene Variante des Dannebrog. Heutzutage wird diese Version seltsamerweise vermehrt von neonazistischen und rechtsextremen Gruppierungen verwendet. Da behalten wir lieber unsere drei Balken in der Fahne und lassen das skandinavische Kreuz weiter im mythischen Norden wehen. Denn in diese Gefilde passt die Legende von der Flagge, die im Schlachtgetümmel vom Himmel fiel, ohnehin wesentlich besser.
Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.