Seit nunmehr über zwei Jahren hält das Corona-Virus die gesamte Welt in Atem. Beschränkungen im sozialen Leben, Maskenpflicht, Proteste gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – wir haben uns mittlerweile irgendwie an ein Leben im Ausnahmezustand gewöhnt. Doch auch wenn bei vielen das Thema schon in den Hinterkopf gewandert ist, so ist diese globale Krise noch lange nicht überstanden. Dies zeigt schon ein Blick in die Statistik, denn seit unserem Editorial vor gut acht Wochen, in denen wir die Fallzahlen der COVID-19-Pandemie thematisierten, sind diese weiter angestiegen. Weltweit waren bereits mehr als 543 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert, 31 Millionen mehr als noch Anfang Mai.
Doch fast mehr noch als die Krankheit per sé rückten in dieser Zeit auch soziale, wirtschaftliche und politische Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie in den Fokus der Öffentlichkeit. Ein solch gravierendes Ereignis kann hohe Wellen schlagen und ein ganzes Land, sogar die ganze Welt nachhaltig prägen. Die Bundestagswahl in Deutschland und der Zweikampf um das Präsidentenamt in den USA auf der einen Seite, die Fußball-Europameisterschaft und die Olympischen Spiele auf der anderen. Wegweisende Entscheidungen und Events mit globaler Strahlkraft wurden maßgeblich durch COVID-19 beeinflusst.
Dass eine solche Pandemie mehr als nur die rasante Verbreitung einer gefährlichen Krankheit bedeutet, zeigt ein Blick in die Geschichtsbücher, aber auch in eine der bekanntesten Fantasy-Welten. Denn grassierende Infektionen gab und gibt es überall und eine davon überstrahlt bis heute alle anderen. Sie prägte das dunkle Mittelalter und (wenn auch weniger bekannt) Tolkiens fiktive Welt Mittelerde: die Pest.
Die Mutter aller Pandemien
Im Jahr 1338 suchte eine mysteriöse Krankheit die christlich-assyrische Gemeinde am Yssykköl-See im heutigen Kirgisistan heim. Einige Jahre späte häuften sich Berichte über Seuchenausbrüche im Gebiet der Wolga. Als 1346 die Armeen der Goldenen Horde, eines Nachfolgestaates des Mongolischen Reiches, die Hafenstadt Kaffa auf der Halbinsel Krim belagerten, fielen zahlreiche Soldaten dieser Krankheit zum Opfer. Schritt für Schritt hatte sie sich ihren Weg nach Westen gebahnt und klopfte nun an das Tor nach Europa. Die Pest war gekommen.
Über Seehandelswege und Landrouten verbreitete sich die Seuche in den kommenden Jahren fast über den gesamten Kontinent. Konstantinopel, Genua, Marseille und Venedig bildeten den Anfang; bis 1349 erreichte die Pest das heutige Deutschland, die Iberische Halbinsel, Großbritannien und Skandinavien. Bis zum Jahr 1353 wütete die Krankheit in Europa und ging später als Schwarzer Tod in die Geschichte ein. Noch heute zählt sie zu den schwersten Pandemien der Weltgeschichte, Schätzungen zufolge starben 25 Millionen Menschen in Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten an der Pest, was ungefähr einem Drittel der damaligen Bevölkerung dieser Region entsprach.


(Urheber: Roger Zenner)
Dabei war diese rund siebenjährige Phase nicht das erste Mal, dass die todbringende Krankheit den europäischen Kontinent heimsuchte. Bereits im 6. Jahrhundert ereilte vor allem den Mittelmeerraum die Justinianische Pest, benannt nach dem damaligen Kaiser des Oströmischen Reiches. Der erste nachgewiesene Ausbruch der berühmt-berüchtigten Seuche im Jahr 541 erfolgte in einer ohnehin schwierigen Zeit.
Wer unseren Vulkanartikel gelesen hat (falls nicht, wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt), weiß, dass sich während dieser Epoche in weiten Teilen Europas aufgrund zweier heftiger Vulkanausbrüche auf Island und in El Salvador das Klima abkühlte, was Missernten und Hungersnöte zur Folge hatte. Die Menschen waren weniger resistent gegen Krankheiten und das durchschnittliche, damalige Immunsystem hatte dem neuartigen Bakterium wenig entgegen zu setzen. Demzufolge wurde die erste große Pestpandemie auf europäischem Boden durch ein vorangegangenes Katastrophenereignis begünstigt.
Die sozioökonomischen und politischen Folgen der Justinianischen Pest waren gravierend: die Bevölkerungszahlen sanken drastisch, die Wirtschaft kollabierte und das Römische Reich zerfiel in der Folge endgültig. All dies soll unter anderem die rasche Expansion der muslimischen Streitkräfte im östlichen Mittelmeerraum begünstigt und so den Weg des Arabischen Reiches zur Weltmacht geebnet haben. In Europa wurde ein dunkles Zeitalter eingeläutet.
Die finstersten Jahre des dunklen Mittelalters
Jahrhunderte später wiederholten sich diese apokalyptischen Ausmaße während der Zeit des Schwarzen Todes. Interessanterweise fiel diese Pandemie wieder in eine Phase der Klimaveränderungen und erneut war ein heftiger Vulkanausbruch beteiligt (ihr solltet wirklich den Vulkanartikel lesen, falls noch nicht geschehen). Die Vorzeichen waren ähnlich, denn die Nahrungsmittellage in Europa war aufgrund schlechter oder ausgebliebener Ernten äußerst prekär.
Die Pest schlug mit voller Wucht zu und prägte das dunkle Mittelalter wie wohl kein anderes Ereignis. In ganz Europa verbreitete sich eine noch nie dagewesene (und bis heute auch kaum wieder erreichte) Weltuntergangsstimmung. Die sozialen, religiösen und politischen Auswirkungen waren enorm.


Das schon seit einiger Zeit angespannte Verhältnis zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Bevölkerung Europas wurde weiter zerrüttet. Den Juden wurde vorgeworfen, das Wasser in den städtischen Brunnen vergiftet und so die Pest ausgelöst zu haben. Die alteingesessene Religionsgemeinschaft wurde durch Diskriminierung, Pogrome und Verfolgung fast vollständig aus Mitteleuropa vertrieben.
Die katholische Kirche, eine damals unangefochtene Institution, verlor an Autorität, da sie die Kontrolle über das einfache Volk verlor, welches sich in den finsteren Pestjahren in mystischen, spirituellen und fanatischen Sekten zusammenschloss. Diese Untergrabung der katholischen Machtbasis legte den Grundstein für die knapp 200 Jahre später beginnenden Reformationsbewegungen. Auch die Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit können auf die sozioreligiösen Umwälzungen während dieser heftigen Pandemie zurückgeführt werden.
Der Schwarze Tod raffte demnach nicht nur jede dritte Person Europas und des Mittelmeerraumes dahin, sondern hatte auch einen erheblichen Einfluss darauf, wie das Mittelalter aus heutiger Sicht charakterisiert wird: als Zeitalter der Dunkelheit und des Niedergangs. Und auch wenn die Pest bis heute noch nicht ausgerottet ist (was zum Beispiel ein Blick auf die jährlichen Fallzahlen in Madagaskar zeigt), wird die Krankheit stets untrennbar mit jener finsteren Epoche Europas in Verbindung stehen.
Vom Mittelalter nach Mittelerde
Die Pest hat sich jedoch nicht nur in unserer Welt als Nummer eins der todbringenden Seuchen etabliert, sondern fand auch ihren Weg in die Fiktion. In zahlreichen Werken taucht die Krankheit, mitunter auch in abgewandelter Form, auf oder wird zumindest in der Historie des jeweiligen Universums erwähnt. Und so ereignete sich auch in Tolkiens Mittelerde eine Pestpandemie. Im Buch Der Herr der Ringe findet sie lediglich in den Anhängen Erwähnung, in den Filmen gibt es überhaupt keinen Hinweis auf das Ereignis, und dass, obwohl es die soziopolitische Landschaft Mittelerdes in der aus den Filmen und Büchern bekannten Epoche maßgeblich beeinflusste.
Im Jahr 1636 des Dritten Zeitalters (D.Z.), also über 1300 Jahre vor den Ereignissen aus Der Herr der Ringe, breitete sich die damals unbekannte Krankheit über die Länder des Kontinents aus. Von Osten kommend ereilte die Seuche nahezu alle Gebiete Mittelerdes und entvölkerte ganze Landstriche. Sie ist unter anderem der Grund dafür, warum die Ländereien des Nordens (die Region rund um das Auenland) zur Zeit des Ringkrieges wild und verlassen sind. Oder habt ihr euch noch nie gefragt, warum Aragorn und die vier Hobbits auf ihrem Weg nach Bruchtal, immerhin einer Reise von mehreren hundert Kilometern, kaum auf Spuren menschlicher Zivilisation stoßen?
Eine Pandemie sie zu knechten
Die Pest traf diese Gegend in einer Phase des Krieges. In früheren Zeiten herrschte das mächtige Arnor über jene Ländereien. Dieses Königreich war das nördliche Pendant zu Gondor, da beide Staaten von den Nachfahren der Söhne Elendils regiert wurden. Während in Arnor die Erben Isildurs auf dem Thron saßen, herrschten in Gondor die Nachkommen von dessen Bruder Anárion. Doch Arnor zerbrach im Jahr 861 D.Z. nach dem Tod Earendurs aufgrund eines Streites seiner Söhne um die Krone in drei Teile: Arthedain, Cardolan und Rhudaur.
Etwa 450 Jahre später attackierte der Hexenkönig von Angmar, der mächtigste Handlanger des dunklen Herrschers Sauron, ebendiese Nachfolgestaaten Arnors. Rhudaur wechselte beizeiten auf die Seite des Bösen und Cardolan wurde fast vollständig besiegt. Als mit Arthedain nur noch ein Widersacher Angmars übrig war, ereilte die Pest das Land. Jene Menschen aus Cardolan, die noch übrig waren, wurden von der Seuche dahingerafft und auch Arthedain wurde schwer getroffen. Der Krieg zog sich schließlich noch über 300 Jahre hin und auch wenn Angmar letztendlich durch ein Eingreifen elbischer Truppen besiegt wurde, so lag das einst prächtige Arnor in Trümmern. Unzählige Schlachten und die todbringende Pest verwandelten das Land in jene Wildnis, wie wir sie aus Der Herr der Ringe kennen. Erst nach der Thronbesteigung Aragorns, über 1000 Jahre später, erholte sich die Region wieder.


Und wo war Gondor? Wieso half das Bruderreich seinen Verbündeten nicht in dieser dunklen Stunde? Gondor wurde selbst von der Pest heimgesucht und zwar härter als so manch anderes Land in Mittelerde. Zu dieser Zeit verschanzte sich Sauron im Herzen von Mordor. Er versuchte, zu seiner alten Stärke zurückzufinden, nachdem ihm Isildur in der Schlacht des Letzten Bündnisses am Ende des Zweiten Zeitalters (die Eröffnungssequenz von Die Gefährten) den Ring der Macht abgenommen hatte.
Gondors oberste Priorität war der Schutz der eigenen Grenzen vor dieser dunklen Bedrohung und so bemannten sie starke Festungen in den Gebirgen, welche sich zwischen dem damals mächtigsten Königreich der Menschen und Mordor auftürmten. Tatsächlich gelang es den Streitkräften Gondors über einen langen Zeitraum recht gut, Sauron und dessen Orks in Schach zu halten und die Geschehnisse in Mordor zu überwachen.
Doch dann kam die Pest. Die Bevölkerung Gondors wurde stark dezimiert, die Wehranlagen mussten aufgegeben werden und so fand Sauron unbeobachtet zu alter Stärke zurück. Die Pest in Mittelerde hat demnach die beiden stärksten Menschenreiche jener Zeit erheblich geschwächt und so für ein Machtvakuum gesorgt, welches Sauron rund ein Jahrtausend später ausnutzen sollte, um die freien Völker erneut anzugreifen. Der Rest ist Geschichte.
Die Pest als biologische Waffe?
Es ist nicht weit hergeholt, dass Sauron möglicherweise die Pest selbst heraufbeschworen hat, um seine Feinde gezielt zu schwächen und einen erneuten Eroberungsfeldzug in Mittelerde zu starten. Für diese (von Tolkien zu keiner Zeit bestätigte) Theorie spricht erstens, dass Sauron mit verderbter Zauberkraft schon das ein oder andere Übel über seine Widersacher brachte. Die Erschaffung einer tödlichen Seuche würde auf jeden Fall in sein Schema passen.
Zweitens breitete sich die Pest von Osten kommend über den Kontinent aus. Die Nachbarländer Mordors waren die ersten, die von der Pandemie heimgesucht wurden. Ein Ursprung in der Heimat des dunklen Herrschers liegt demnach nahe.
Und drittens, wie bereits erwähnt, wurden die freien Völker Mittelerdes in einer Phase von der Pest getroffen, die sich als wegweisend herausstellen sollte. Ohne die Seuche wären möglicherweise noch genügend Menschen des Nordens übrig geblieben, um nach Angmars Niederlage das Königreich Arnor wiederzuerrichten, Gondor wäre nicht geschwächt worden und in der Folge stünden zwei überaus mächtige Menschenreiche zwischen Sauron und seinem Plan der Eroberung von ganz Mittelerde. Aber ganz gleich, ob die Pest nun eine natürliche Pandemie war oder ein ausgeklügelter Plan des dunklen Herrschers, sie veränderte das Dritte Zeitalter nachhaltig und machte die erneute Invasion Saurons überhaupt erst möglich.
Auch bei der mittelalterlichen Pest, dem Schwarzen Tod, hielten sich lange Zeit Gerüchte, dass eine frühe Form der biologischen Kriegsführung die Verbreitung in Europa vorangetrieben haben soll. Als die Armeen der Goldenen Horde Kaffa belagerten und immer mehr Soldaten der Krankheit zum Opfer fielen, sollen die Leichen der Pesttoten mit Katapulten über die Stadtmauern geschleudert worden sein, um die einheimische Bevölkerung zu schwächen. Dort wurden sie von den Belagerten in das Schwarze Meer geworfen und könnten so eine rasche Verbreitung der Seuche begünstigt haben.
Aus heutiger, wissenschaftlicher Sicht ist dieses Szenario allerdings eher in das Reich der Legenden einzuordnen. Doch die Epoche des Schwarzen Todes – das dunkle Mittelalter – ist in den Vorstellungen der Menschen ohnehin bis heute voll von Mysterien und Schauergeschichten. Gar nicht so viel anders wie Mittelerde.
Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.