Ausgabe 1Kulturbeutel

DIE ASENA-LEGENDE

Der türkische Ursprungsmythos

Gerissenes Vieh, vertilgte Geißlein und ein Biss, der eine unheilvolle Verwandlung nach sich zieht. Der Wolf genießt zu Unrecht eines der schlechtesten Images im Tierreich. Doch dem Bösewicht aus der Märchenwelt und Schrecken aller Viehhalter eilte nicht immer ein schlechter Ruf voraus. In vielen Mythologien wird der Wolf hochgeschätzt und nimmt die Rolle des Seelenführers und treuen Weggefährten ein oder wird als Symbol für einen ehrenvollen Tod genutzt. So sind in der nordischen Mythologie zwei Wölfe mit den Namen Geri und Freki die tierischen Begleiter des Kriegsgottes Odin, während die Wölfe Skalli und Hati als die Wesen bekannt sind, die Sonne und Mond verfolgen. In der römischen Mythologie ist Lupa, die Wölfin, die Romulus und Remus säugte, der Inbegriff von Mutterliebe. Und in ägyptischen Erzählungen besitzt der Gott Anubis die Gestalt eines Schakals – eines ägyptischen Wolfes.

Der pelzige Ahne

Die wohl wichtigste Rolle nimmt der Wolf jedoch in der alttürkischen Mythologie ein. Für die frühen türkischen Stämme war er das bedeutendste aller Totem-Wesen und wurde zugleich als Ahne verehrt. Bekannt war er den damaligen Völkerschaften unter dem Namen kök böri, was übersetzt werden kann mit himmlischer oder blauer Wolf. Dass die Entstehungsgeschichte des türkischen Volkes eng mit dem Wolf verflochten ist, lässt sich an mehreren Stellen festmachen. So ist die Stele von Bugut (ein schriftliches Zeugnis, das zu den ältesten der türkischen Kultur zählt) mit einer Wölfin verziert, die ein Kind säugt. Die Flagge des göktürkischen Reiches wurde von einem goldenen Wolfskopf geschmückt und chinesischen Quellen zufolge wurde die Leibgarde der türkischen Herrscher die Wölfe genannt. Zurückzuführen ist die Verehrung des Raubtiers auf die Ursprungsmythen des türkischen Volkes.

Die Asena-Legende ist die älteste der bekannten Legenden der türkischen Mythologie. Der Mythos, in dem der Stammvater der Gök-Türken (eine in der Spätantike in Zentralasien lebende Stammeskonföderation) von einer Wölfin namens Asena gerettet wird, geht auf mehrere chinesische Quellen zurück. Die älteste schriftliche Erwähnung lässt sich in der 629 fertiggestellten Zhou shu der kurzlebigen Zhou-Dynastie wiederfinden.

Die Legende

Nach Zhou shu beginnt die Asena-Legende damit, dass der unabhängige Volksstamm der Tue’kue bis auf einen einzigen kleinen Jungen durch einen feindlichen Angriff des Nachbarlandes vollständig ausgerottet wurde. Der Junge, der im zarten Alter von zehn Jahren war, überlebte, da die Angreifer es nicht fertigbrachten, ein so junges Kind zu töten. Und so hackten sie ihm stattdessen die Füße ab (in einer anderen Version sind es die Füße und die Arme) und warfen das verstümmelte Kind in einen nahegelegenen Sumpf. Durch eine glückliche Fügung erlag der Knabe dort nicht seinen Verletzungen, sondern wurde von einer Wölfin namens Asena gefunden und gerettet. Die Wölfin floh mit dem Jungen in eine Höhle in den Bergen nördlich von Kao-ch’ang, wo sie ihn aufzog und mit Fleisch nährte. Heute wird vermutet, dass es sich bei diesem Gebirge um das Altai-Gebirge handelt. Nachdem der Junge herangewachsen war, vereinigte er sich mit der Wölfin und sie gebar zehn Jungen. Diese Zahl wurde von Wissenschaftlern mit den zehn Stämmen in Verbindung gebracht, aus denen der Westteil des ersten türkischen Reiches bestand. Die Jungen aus der Vereinigung von Mensch und Wolf wuchsen heran und nahmen sich Frauen, um neue Nachkommen zu zeugen. Und so bildeten sich allmählich mehrere hunderte Familien, die sich erst nach etlichen Generationen aus der Höhle hinauswagten. Sie unterwarfen sich den Ju-ju und lebten seither an der südlichen Seite des Chin-shan.

In den unterschiedlichen Versionen des Mythos kommt es zu den verschiedensten Abweichungen. So ist der Junge in einer Variante noch ein Säugling, der mit Wolfsmilch gestillt wird, während er in einer anderen Version als erwachsener Mann Rache an den Menschen nimmt, die sein Volk vernichteten. Dagegen ist die Wölfin Asena eine resolute Konstante und nimmt in jeder uns bekannten Variante des Ursprungsmythos die Rolle der tierischen Urmutter des türkischen Volkes ein.

Über ein Jahrtausend nach Niederschrift des Mythos ist weder die Wölfin Asena noch die Legende, in die sie gebettet wurde, in Vergessenheit geraten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird der Ursprungsmythos wieder häufiger in national-türkischer und pantürkischer Literatur adaptiert und auch Wolf und Wölfin sind bis zum heutigen Tage treue Begleiter des türkischen Volkes geblieben. So besetzen die pelzigen Raubtiere nach wie vor wichtige Rollen in vielen türkischen Märchen und Sagen und werden als ein aussagekräftiges Symbol in militärischen und politischen Bereichen genutzt.

Julia ist die Ambivalenz auf zwei Beinen. Sie lebt einerseits mit Dinosauriern und Shakespeare in der Vergangenheit, ihr (seit drei Jahren) fast vollendeter Debüt-Roman spielt jedoch in der Zukunft. Sie wollte eigentlich etwas "Sicheres" studieren und ist jetzt blöderweise im Journalismus gelandet. Dort ist sie ganz nebenbei Mate-abhängig geworden und mit ihrer Tastatur verwachsen.

Quelle
Süddeutsche ZeitungKlaus Kreiser: Die Geschichte der TürkeiDenis Sinor: The legendary Origin of the Türks

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert