AQUILERIA ist eine mittelalterliche, fantastische Welt voller Geheimnisse und Abenteuer. Eine Welt mit eigenen Landschaften, Königreichen, Kulturen, Religionen und Zeitrechnungen. Eine Welt, in der es ganz besondere Orte, Pflanzen, Tiere und Phänomene gibt, ebenso wie ganz besondere Heldinnen und Helden, die sich nie als solche verstehen und bezeichnen würden. Eine Welt, in der sich die Menschen Geschichten, Märchen, Sagen und Legenden erzählen, die von Dingen berichten, die unvorstellbar, lehrreich, magisch, gruselig oder einfach nur unterhaltsam sind. Eine Auswahl dieser Erzählungen, zusammengefasst unter „AQUILERIA · Sagen & Legenden“, veröffentlichen wir exklusiv hier im Wirsing-Magazin. Sie ergänzen die bisherigen Bücher aus der Feder von Alexander Büttner um eine neue, mythische Komponente.
Eine Erzählung aus der Wildnis über die Ursprünge eines furchtlosen Stammes und die Bedeutung der Knochentotems, die man in vielen Siedlungen der Wilden findet.
„Den größten Schrecken findet die Angst in ihrem Spiegelbild“
Sprichwort der Karaner
„Marek sah viele Hütten und Verschläge und sogar Zelte, die sich um einen großen, toten Baum in ihrer Mitte drängten, dessen vertrocknete Äste mit den verblichenen Schädeln toter Tiere behangen waren. Marek war fest davon überzeugt, dass dort auch menschliche Knochen hingen. Schnell wandte er den Blick wieder ab, bevor er wirklich welche entdeckte.“
aus Mareks Reise
Seak ederam. Willkommen in meiner Hütte. Man nennt mich Uff Ar Dyck. Ich bin der Terba A‘Hlack, der Bewahrer der Geschichten unseres Stammes. Wir sind Krieger; Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern des Blutes und des immerwährenden Endes. Unser Schrei lässt das Leben erstarren, unser Ansturm die Hoffnung aus dem Geiste unserer Feinde fliehen. Wohin wir kommen, herrschen wir. Sie nennen uns Ka Raner. Wir tragen diesen Namen mit Stolz. Er bedeutet Die ohne Herz. Diese Geschichte wird euch lehren, uns zu fürchten, und zu verstehen, warum es selbst die Götter tun.
Seitdem das Licht der Sonne morgens über die Wälder steigt und am Abend vom Mond und den Sternen bezwungen wird, so lange wandeln schon die Götter über diese Welt. Sie kommen mit Gaben und sie kommen mit Schrecken, ein jeder auf seine Weise. In diesen längst vergangenen Tagen sahen sich selbst unsere eigenen Vorfahren ihrem Willen ausgeliefert. Stürme zerstörten ihre Hütten, Feuer ihre Siedlungen. Krankheiten nahmen ihnen die Kinder, Seuchen die Herden. Kalte Winter ließen die Wölfe hungrig und das Wild knochig werden. Sie schickten Feinde, die unsere Ahnen bluten ließen, und Monster, die ihnen den Schlaf raubten. Dem schlimmsten unter ihnen gaben sie den Namen Herz der Düsternis, in unserer Sprache Ranroth.
Ranroth war es, den unsere Ahnen am meisten fürchteten. Sein Schrecken kannte viele Formen und Gesichter. Mal erschien er ihnen als schwarzer Wolf, so groß wie drei Männer, mit brennendem Schaum vor dem Maul und Klauen, die selbst Stein aufrissen. Ein anderes Mal kam er in Gestalt eines Bären, aus dessen Leib drei nackte Schädel ragten. Man sah ihn auch als geschuppten Wurm, dessen Maul von riesigen Zähnen gesäumt war, aus denen er Gift spritzen konnte. Und als Bestie, deren rote Augen in der Nacht leuchteten und deren Knurren einen mutigen Mann zu Stein erstarren ließ.
Stets lauerte er im Dunkeln, schlich ungesehen um die Siedlungen unserer Ahnen, drang in ihre Köpfe und ihre Herzen ein und überfiel sie in ihren Träumen, aus denen sie schreiend und wirr erwachten. Und so beherrschte Ranroth nicht nur die Nacht, sondern auch den Tag. Er wurde zu ihrem Begleiter, zur Geißel ihres Lebens.
Doch unsere Ahnen waren tapfer, und sie wussten um die Geheimnisse der Welt. Ranroth setzte ihnen zu, doch brechen konnte er sie nicht. Viel mussten sie ihm opfern, doch anstatt ihn, stärkten die Opfer sie selbst. Sie begannen, ihre Angst hinzunehmen, sie einen Teil von sich werden zu lassen. Anstatt ihn zu flüstern, riefen sie laut Ranroths Namen. Sie stellten sich seinen Gestalten, forderten sie heraus, lockten sie aus der Dunkelheit.
Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis. Einen Gott zu stellen, kann nur mit Vernichtung enden – mit der des Gottes oder mit der eigenen. Doch ein Leben in Angst ist kein Leben, das unsere Vorfahren als würdig befanden. Und so blieb ihnen nur der Kampf.
Dem Wolf warfen sie drei Frauen vor, jung und zart und weich. Er verschlang die erste und er weidete sich an der zweiten, doch als er die dritte mit sich nehmen wollte, stürzten sie sich mit Speeren auf ihn. Sie trafen ihn in den Flanken und am Hals, doch mit seinen Klauen zerriss er ihre Schilde und Leiber. Erst, als der verirrte Splitter eines zerbrochenen Speers in eines seiner Augen fuhr, ließ Ranroth von ihnen ab und verkroch sich in die Dunkelheit, aus der er gekommen war.
Es war ein schrecklicher Sieg, aber er zeigte unseren Ahnen, dass sie nicht wehrlos waren. Die Angst blieb in ihren Herzen, doch wuchs in ihnen auch der Mut. Und so suchten sie die Höhle des dreiköpfigen Bären und fanden sie in der dunkelsten Schlucht eines leblosen Tals, von dessen Hängen keine Felsen rollten, sondern die abgenagten Schädel und Knochen Ranroths Opfer. Mit dem Geschrei der Verzweifelten stürmten sie in die Finsternis, rissen ihn aus seinem Schlummer und riefen ihn ins Licht. Er wütete schlimm unter ihnen. In der Enge der Höhle gab es kein Entrinnen. Doch als er in seiner Wut aus ihrem Eingang stürmte, strafften sie ein festes Band, das sie aus dem Leder wilder Tiere gewunden hatten. Es wand sich um den Hals des vorderen der drei Knochenschädel und ließ den Bären fallen. Unsere tapfersten Krieger hielten das Seil und sie sprangen über den Rücken des Ungetüms, und wenn einer seiner Schädel sie erwischte, so griff ein anderer Mann nach dem Seil. Und so legten sie eine Schlinge um die drei Knochenschädel und zogen, bis die knöchernen Genicke brachen. Zwei der Schädel fielen so vom Leib, doch ein dritter blieb, und mit dem zerbiss der Bär das Seil und befreite sich.
Ranroth war noch nicht bezwungen, doch hatte sein Schrecken ein weiteres Mal an Macht verloren. Es dauerte lange, bis sich unsere Vorfahren von diesem Kampf erholten. Männer und Frauen wurden geboren und sie starben, und Ranroth blieb unter ihnen, doch der einäugige Wolf und der einköpfige Bär hatten ihren Schrecken verloren. So war es dann die gefräßige Schlange, der sie sich stellen mussten. Sie lockten sie herbei, mitten in ihr Dorf. Es war eine Nacht der dunkelsten Dunkelheit, an der kein Licht am Himmel war und schwarze Wolken verhüllten, was geschehen sollte. Denn als Ranroth durch die Schatten kroch, lauerten die stärksten Männer und Frauen ihm auf, warfen sich auf ihn und griffen nach dem geschuppten Leib. Die Schlange riss ihr Maul auf, um sie alle zu verschlingen. Doch sie hatten Pfähle vorbereitet, und diese rammten sie der Schlange in den Kiefer. Das Gift floss in Strömen aus dem geöffneten Schlund und verdarb Land und Wasser. Wer darin stand, dessen Füße zersetzten sich in Blut und Schleim, doch unsere Ahnen schreckten nicht zurück. Sie holten die Alten und die Kranken, und freiwillig stürzten sie sich in den geöffneten Rachen, wo sie elendig starben und verkamen. Das Gift ihres Alters, ihrer Schwäche und ihrer Krankheit breitete sich in der Schlange aus. Wild vor Schmerzen zerbiss Ranroth die Pfähle in seinem Kiefer und verlor dabei einen Zahn. Und während sein geschuppter Leib ob des Gifts unserer Ahnen zu welken begann, zog er sich in die Nacht zurück.
Unseren Vorfahren blieb keine Zeit, ihren Sieg zu feiern. Beraubt des Wissens und der Erfahrung ihrer Ältesten und mit verseuchtem Boden unter den Füßen, mussten sie sich eine neue Heimat suchen. So zogen sie weiter.
Doch Ranroth war noch immer nicht besiegt. Es blieb ihm die Gestalt der Düsternis, die der unheilvollen Augen und des grausigen Knurrens. Er folgte ihnen, und auch er hatte gelernt. Gier und Wut und Hochmut hatten ihn drei Mal ins Verderben geführt, ein viertes Mal ließ er dies nicht zu. Unsere Ahnen erreichten bald das Dorf eines anderen Stammes und machten es zu ihrem. Niemand konnte sich ihnen stellen, denn Ranroths Grausamkeit war längst zu der ihren geworden.
Der Gott indessen ließ nicht von ihnen ab. Er lauerte in der Nacht und verbreitete seinen Schrecken. Den Fallen, die man ihm stellte, wich er aus, und bald schon gewann er wieder an Stärke, als unsere Ahnen sahen, dass sie ihm nicht beikommen konnten. Schreckliche Dinge geschahen; manche sah man, von manchen hörte man, einige träumte man. Und so ergriff von Neuem die Furcht die Herzen unserer Ahnen, als Ranroth die Nächte für sich eroberte, und Düsternis legte sich über ihr Dasein.
Doch alles ist im Gleichgewicht. Jede Stärke offenbart eine Schwäche, so wie jeder Schatten von einem Licht geworfen wird. Das wussten auch unsere Ahnen, und so erkannten sie schließlich ihren Fehler. Ihr ganzes Streben war darauf aus gewesen, Ranroth zu töten. Doch das war nicht nötig.
Der Kampf mit dem Gott hatte unsere Ahnen stark und hart werden lassen; stärker und härter als alle anderen Menschen. Er hatte sie gelehrt, sich der Angst zu stellen, sie nicht zu fürchten, sondern sie zu bezwingen und für die eigenen Zwecke zu nutzen. Ranroth zu töten bedeutete, diese Stärke aufzugeben. Dazu waren sie nicht bereit.
Stattdessen suchten sie nun einen Weg, ein Gleichgewicht zu finden. Sie hatten der Angst viele ihrer schrecklichen Gestalten genommen, doch die letzte, die sich in der Düsternis verbarg, vermochten sie nicht zu greifen. Und wenn sie Ranroth nicht vertreiben konnten, so mussten sie dafür sorgen, dass er ihnen aus freien Stücken fern blieb.
Im Herzen ihrer Siedlung stand ein alter Baum, knorrig und alt und leblos. Er glich dem zerbrochenen Speer, der Ranroths Wolfsauge durchbohrte. An diesen Baum hingen sie die Schädel erlegter Bären, Wölfe und anderer Tiere, und sie schlugen geschnitzte Pfähle in den Boden, wie jene, die sie eins Ranroths Schlangengestalt ins Maul geschlagen hatten.
Es wurde ein Mahnmal der Siege, die sie über den Gott der Angst erzwungen hatten.
Als Ranroth dieses Zeichen seiner Verletzlichkeit erblickte, erinnerte er sich an die unaussprechlichen Schmerzen, die ihm unsere Ahnen zugefügt hatten. Die Dinge, die sie ihm genommen hatten. Die Schande, die sie über ihn gebracht hatten.
Und so überkam ihn ein Gefühl, das er nicht kannte: Furcht.
Er zog sich leise in die Düsternis zurück, wo er noch immer weilt und wartet. Wartet auf den Tag, an dem wir schwach und weich werden. Den Tag, an dem wir unsere Angst vor ihm verlieren.
Doch wir tragen die Angst fest in unserem Herzen. Sie gibt uns Mut und sie gibt uns Kraft. Sie ist ein Teil von uns, und deswegen fürchten wir sie nicht. Sie hat keine Macht über uns, sondern wir über sie. Dank ihr fürchten wir weder das Leben noch den Tod, weder die Welt noch die Götter. Dank ihr sind sie es, die uns Ka Raner fürchten. Uns und unsere Taten, die die eines Gottes des Schreckens sind.
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Alexander ist Schriftsteller, freier Redakteur, Projektmanager und Verlagsleiter. Aus seiner Feder stammt unter anderem die AQUILERIA-Reihe. Zudem betreibt er zusammen mit Caroline Loße den Buchblog Beardy Books, auf dem er vor allem über Abenteuergeschichten berichtet, die irgendwo zwischen Antike und dem Indiana Jones-Zeitalter der Dreißiger Jahre angesiedelt sind - oder die er im Kinderzimmer seines Sohnes findet. Daneben engagiert er sich für Nachhaltigkeit und den Erhalt von Wildnis- und Urwaldflächen (unter anderem im Rahmen von Wilderness International) und hat ein großes Herz für Crossmedia Storytelling.