Ausgabe 8Lagerfeuergeschichten

DIE MUTTER ALLER HEXEN

Das Holz unseres Lagerfeuers knistert geheimnisvoll, während orangerote Flammen in den tiefschwarzen, mondlosen Nachthimmel züngeln. Der Wald um uns herum liegt in nächtlicher Ruhe und undurchdringbarer Finsternis. „Rückt näher zusammen“, beginnt unsere alte Campleiterin mit ehrfürchtiger Stimme zu sprechen. „Wisst ihr, was man sich über diese Wälder erzählt?“ Beklemmendes Schweigen. Als ob die ohnehin schaurige Stimmung noch ein Gruselmärchen benötigen würde.

„Manche sagen, sie ist nur ein Mythos, nichts weiter als eine Märchenfigur. Doch hier, im Herzen Osteuropas, begleitet sie seit Jahrhunderten die Menschen wie ein unheilvoller Schatten. Früher galt sie als eine Göttin, als die Erdmutter höchstpersönlich, doch heutzutage glauben die Leute, dass sie eher die Großmutter des Teufels oder zumindest mit diesem im Bunde ist. Tagsüber erscheint sie zuweilen in den Dörfern als weise Frau, die Ratschläge gibt und Geschenke verteilt, doch des nachts oder in den Tiefen des Waldes, wenn du hilflos und allein bist, offenbart sie ihre wahre, durch und durch bösartige Natur.“

Als ich kurz von den tanzenden Flammen aufsehe, die mich komplett in ihren Bann gezogen haben, bemerke ich, dass die Campführerin durch die Runde schaut und schließlich bei mir hängen bleibt. Ich kann meinen Blick nicht lösen, während sie mit eindringlicher Stimme fortfährt: „Sie ist eine alte, hässliche Hexe, mager und knorrig wie ein toter Baum. Ihr Mund wird gesäumt von eisernen Zähnen und schon ihr Blick lässt dein Blut in den Adern gefrieren. Sie fliegt in einem großen Mörser, den sie mit einem Stößel lenkt, durch die Lüfte, kann aber auch in Windeseile rennen und dich zu Tode hetzen, indem sie wie besessen auf deinen Rücken springt. So macht sie Jagd auf sterbende Menschen. Wenn die Opfer tot sind, verzehrt sie deren Fleisch und dekoriert den Zaun ihrer Hütte mit den Schädeln ihrer Beute, während sie wie im Wahn kichernd tanzt.“ In der Ferne wehklagt eine Eule.

„Ihre Hütte taucht im Wald wie von Geisterhand auf, mit Fenstern, die wärmendes Licht ausstrahlen, um verirrte Wanderer anzulocken. Wenn die Hexe ein bestimmtes Wort flüstert, dreht sich die Hütte herum und offenbart eine Tür, wo vorher keine war. Doch dann ist es für die verlorenen Seelen bereits zu spät, denn das Hexenhäuschen schreitet geschwind auf seinen großen Hühnerbeinen durch den Wald und fängt jene, die von der Vettel zum nächsten Opfer auserkoren wurden. Bist du einmal in der Hütte ohne Ausgang gefangen, gibt es kein Entkommen. Dann hat die böse Alte dich in ihrem tödlichen Griff. Sie, die Mutter aller Hexen, die man Baba Jaga nennt.“

Im diffusen Dunkel zwischen den Bäumen mache ich ein unscheinbares Licht aus, welches mir vorher noch nicht aufgefallen war. Ein schmaler Strich, der sich stetig vergrößert; wie die Tür einer Hütte, die langsam geöffnet wird. Mein rastloser Blick wandert zurück zu unserem Lagerfeuer. Keiner ist mehr hier, alle meine Begleiter sind wie vom Erdboden verschluckt. Nur unsere Campleiterin sitzt mir noch gegenüber, ihr Blick starr auf mich gerichtet. Ihr Mund nimmt die Züge eines Lächelns an und verformt sich schließlich zu einem breiten Grinsen, welches eine Reihe eisern glänzender Zähne offenbart.

Schweißgebadet wache ich auf. Träume können dem Verstand wirklich fiese Streiche spielen. Ich bin noch komplett durcheinander, als ich mich nach der Suche nach einem Glas Wasser aus dem Bett quäle. Im ersten Moment finde ich nicht einmal meine eigene Schlafzimmertür…

Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.

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