Jahrelang hielt Game of Thrones Millionen Zuschauer in Atem, zog sie vor die Bildschirme und ließ zahlreiche kalte Schauer über ebenso viele Rücken laufen. Und die analogen Fans von Martins Das Lied von Eis und Feuer warten noch immer sehnsüchtig auf das vielleicht wohlverdiente Ende. Mit jeder Staffel und jedem Buch sprangen mehr Fans auf den Rücken des metaphorischen Drachen und folgten Jon, Tyrion und Daenerys quer durch Westeros und über Landesgrenzen hinweg.
Doch wie gelingt es diesem Format bis heute, so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Sexualität in seinen Bann zu ziehen und mitunter süchtig zu machen, wie es in manchen Fällen nur das Endprodukt bei Breaking Bad vermag? Liegt es an den zahlreichen Nacktszenen, von denen Emilia Clarke alias die schöne Daenerys die meisten drehte? Oder sind es die raffinierten Kampfszenen, welche beim Battle of Bastards an das hochprämierte Fantasyepos Der Herr der Ringe erinnern? Vielleicht liegt es aber in der Genrefrage selbst begründet, da fantastische Werke aller Art in den letzten Jahren zunehmende Popularität erfahren.
„Chaos ist keine Grube. Chaos ist eine Leiter“ (Petyr Baelish)
Game of Thrones wird landläufig eben diesem Fantasygenre zugeordnet, dabei handelt es sich allerdings um eine relativ junge Kategorie der Unterhaltungsliteratur und weniger um einen literaturwissenschaftlich fundierten Terminus. Versucht man dieses Genre wasserdicht zu definieren, stößt man auf zahlreiche Varianten und Abgrenzungsversuche. Aus diesem Grund ging Pesch, welcher in Deutschland die einzige wissenschaftliche Gesamtdarstellung zum Thema verfasste, auf inhaltlicher Ebene vor und beschreibt die Fantasywelt als eine imaginäre Welt, welche mit der realen Kontinuität bricht und sich als statisches, gesellschaftliches – aber eben auch fantastisches – System manifestiert. Dabei darf diese Welt aber nicht als alternative Realität verstanden werden, sondern als reine Fiktion.
Gerhard Haas fügt dem Definitionsversuch außerdem den Kampf zwischen Gut und Böse hinzu, welcher Werke dieses Genres hinsichtlich des narrativen Settings und der Charakterzeichnung prägt. Demnach wird dieser Kampf in einem vergangenen, pastoralen Setting ausgetragen, wobei das Übernatürliche zum Alltäglichen transformiert wurde und den handelnden Figuren damit als selbstverständlich erscheint.
Dennoch können Erzähler und Charaktere nicht mit einer wissenschaftlichen Erklärung für solche übernatürlichen Phänomene aufwarten, wobei weder für sie noch für die Rezipienten dahingehend eine Notwendigkeit besteht. Brian Attebury betont in seinem Werk The Fantasy Tradition in American Literature, dass diese uneingeschränkte Akzeptanz des Übernatürlichen elementar für die Definition des Fantasygenres ist. Dabei bezieht er sich sowohl auf den Leser, als auch die handelnden Figuren und unterstützt damit Tolkiens Secondary Belief. Denn der unsterbliche Autor differenzierte zwischen dem Primary und dem Secondary Belief. Bei Ersterem wird dem Rezipienten eine Geschichte erzählt, die wahr ist und die man auch für wahr, also in diesem Sinne real, hält. Bei Zweiterem, dem für das Fantasygenre entscheidenden, wird eine Geschichte gehört, von der man weiß, dass sie nicht wahr, also nicht real, ist. Allerdings wird sie so überzeugend erzählt und enthält so ausgeklügelte und differenzierte Figuren, dass man glauben kann, sie sei wahr. Der Rezipient wird demnach so in die Geschichte eingesogen beziehungsweise angezogen, als hätte das Pokémon Chaneira die Attacke Anziehung eingesetzt.
„I am not going to stop the wheel, I am going to break the wheel“ (Daenerys Targaryen)
Will man nun Game of Thrones diesen und weiteren maßgebenden Kategorien unterwerfen und auf fantastische Elemente untersuchen, erkennt man, dass es sich ebenso wenig in dieses Korsett zwängen lässt, wie Daenerys ein Schicksal als verkaufte Braut akzeptiert. They break the wheel und definieren ihre Existenz und ihr Wirken neu. Denn auch wenn Game of Thrones einige Elemente des Fantasygenres beinhaltet, so sprengt es an vielen Stellen die Vorstellungen und den Rahmen, wodurch etwas Neues entsteht.
Folgt man in diesem Zwiespalt Brian Attebery, so stellt man fest, dass sowohl das narrative Setting von Martins Werk als auch seine differenzierten und psychologisch-komplexen Figuren die Erwartungen an ein herkömmliches und normgerechtes Fantasywerk weit übersteigen. So skizziert der Autor nicht nur schematische 0-8-15-Figuren, sondern erschafft so überzeugende Charaktere, dass sich die Rezipienten mit ihnen verbunden, zu ihnen hingezogen und manchmal auch von ihnen enttäuscht fühlen. Diese Nähe zu Jon Schnee oder Daenerys Targaryen könnte als Erklärung dienen, weshalb sich Leser*innen und Zuschauer*innen von diesem Format so nachhaltig abhängig fühlen und jeder weiteren Seite oder Minute schaudernd entgegenfiebern. Attebery scheint diese Meinung nicht nur indirekt nahezulegen, sondern aktiv zu fördern, da er Fantasyliteratur als entscheidende Bewegung der postmodernen Literatur begreift.
Erinnert man sich darüber hinaus an fantasytypische Fabelwesen als klassisches Erkennungsmerkmal, so kann Game of Thrones nur mit sagenumwobenen Drachen und zombieähnlichen Weißen Wanderern aufwarten, welche man auch in postapokalyptischen Serien wie The Walking Dead erwarten könnte, sofern Rick und Konsorten nach Alaska ziehen würden. Auch der Schwertkampf als Fantasytopos steht in Westeros im Schatten der türaufhaltenden Halbriesen und sich zu Tieren wandelnden Wargen, welche die groß inszenierten Kämpfe und entscheidenden Szenen dominieren.


Diese würden zwar gern als erwähnte Fabelwesen gelten, entziehen sich aber durch ihre dunkle Vergangenheit, ihren charakterlichen Tiefgang und die mitunter anschauliche Mordlust dem harmlosen und romantischen Flair des klassischen Einhorns. Es wird also deutlich, dass die genormte Topik des Fantasygenres von Wynne Jones, wozu beispielsweise der Schwertkampf und die Fabelwesen zählen, nur in Ansätzen bedient und mitunter pervertiert wird, wodurch erneut veranschaulicht werden kann, dass Game of Thrones sich in keine Schublade stecken lässt.
„Ich bin vielleicht klein. Ich mag ein Mädchen sein, aber ich werde nicht am Feuer stricken, während Männer für mich kämpfen“ (Lyanna Mormont)
Gleiches trifft auf die weiblichen Figuren bei Martin zu, die keine rettungsbedürftigen Prinzessinnen in Türmen sind, sondern ihr Leben in die Hand nehmen, ihr Schicksal aktiv gestalten und sich beharrlich weigern, als banale Staffage zu dienen. Nicht nur Daenerys strebt nach einer Krone und ist dafür bereit, auch über Leichen zu gehen. Sondern auch Sansa entfaltet ihre Flügel als durchaus großes Vögelchen und erhebt sich aus den Trümmern des Nordens als Königin und Befehlshaberin über jene Männer, die sie in anderen, klassischeren Werken bevormundet hätten. Arya tötet den zum ultimativen Feind aufgebauten Nachtkönig, woraufhin Gimli betont hätte, dass dieser auch nur als Einer gelte. Wobei man sich darüber streiten kann, wenn man den Dominoeffekt bedenkt. Und Cersei hat zwar überraschende Gräueltaten perfektioniert und weltweiten Hass auf sich gezogen wie kaum eine andere fiktive Figur, dominiert aber dennoch all jene Männer, die sie als Marionette missbrauchen wollten. Sie zeigt jene Gewissenlosigkeit und Entschlossenheit, die in vielen klassischen Fantasywerken vor allem den Männern vorbehalten war. We hear her roar.


Dabei kennt die Königin von Westeros keine Tabus und keine Grenzen; Cersei sprengt die Septe, belügt religiöse Oberhäupter und scheint dabei keinerlei Reue zu empfinden. Deswegen liegt es nahe, die Religionen ebenfalls in die Betrachtung einzubeziehen. Diese werden nämlich nicht nur von Cersei und dem Spatz politisiert, sondern gehen auch Hand in Hand mit Mythen, welche auch als Instrument zur Machterhaltung eingesetzt werden. Dennoch haben diese Religionen und Mythen sehr unterschiedliche Wirkungsspektren. Während die Sieben keinen messbaren Einfluss nehmen und nur als Rechtfertigungsgrund diverser Gräueltaten dienen, kann der Herr des Lichts durch Melissandres Hand den toten Jon wiederauferstehen lassen, sodass dieser den Nachtkönig töten und Westeros damit von der hochstilisierten Gefahr retten kann – was am Ende allerdings seine kleine Schwester Arya übernimmt. Womit sich der Kreis des weiblichen Empowerments schließt.
„Alle Zwerge sind Bastarde in den Augen ihrer Väter“ (Tyrion Lannister)
Diese Emanzipation durchlaufen aber nicht nur die Frauen, sondern auch Außenseiter, die zwar nicht fantastisch, dafür aber umso einflussreicher sind. Dies mag in unserer diversen und toleranten Weltsicht gerade einmal die Mindestanforderungen erfüllen, trifft aber kaum auf bekannte Fantasywerke zu. Die damit einhergehenden neuen Spannungsfelder und Ausbrüche aus dem umgrenzten Definitionsbereich des Fantasygenres könnten ebenfalls als Begründungen herangeführt werden, weshalb Game of Thrones jahrelang als Publikumsliebling galt und zum Rekordhalter avanciert. Folglich kann der Grund für diesen Trend nicht ausschließlich in den fantastischen Elementen liegen, sondern muss aus den vielschichtigen Puzzleteilen der Gestaltung zusammengesetzt werden.
„Wenn man das Spiel der Throne spielt, gewinnt man oder man stirbt“ (Cersei Lannister)
In Martins Zyklus treffen Alltime-Favourites wie Liebe, Intrige, Sex und Blut aufeinander. Sie werden präsentiert von vielschichtigen, sympathischen und authentischen Charakteren, welche sich durch differenzierte Stärken und allzu menschliche Schwächen auszeichnen. Situiert wurden sie in einer feudalen, in sich schlüssigen und stringenten Welt, welche fantastische Elemente beinhaltet und diese als alltäglich präsentiert. Man könnte annehmen, dass sie applausheischend eingesetzt wurden, um die Konsumenten zu manipulieren und an den Stoff zu binden. Doch auf der anderen Seite ergeben sie sich aus der Kausalität der Handlung und fügen sich selbstverständlich in das Gesamtbild ein, sodass es nur logisch erscheint, dass Feuer einen (menschlichen) Drachen nicht töten kann.
Um in unserer globalen, medialen, sich sekündlich ändernden Welt Eindruck zu hinterlassen, ist es vielleicht notwendig, die Grenzen der Genre und Erwartungen zu sprengen. Vielleicht dürfen nicht nur die Figuren Grenzgänger zwischen Normalität und Übernatürlichem sein, sondern auch die Autoren. Denn die Vernetzung und Globalisierung führen nicht nur zu besagter Schnelllebigkeit, sondern ermöglichen auch die Verschmelzung zwischen Konsumenten und Produzenten zum sogenannten Prosumenten. Und damit wird es auch zunehmend schwerer, auf dem Markt zu bestehen und Begeisterungsstürme auszulösen; es sei denn es gelingt, ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen, das eine Sonderstellung einräumt. Und George R. R. Martin gelang es, die richtigen Zutaten in der richtigen Menge zu mischen, um ein Produkt entstehen zu lassen, das eben jene beschriebene Faszination auslöst. Kritiker mögen zu Recht behaupten, dass an manchen Stellen zu viel Salz in der Suppe gelandet ist, aber dieses Risiko muss man eingehen, wenn man etwas Neues erschafft. Und wenn es keinen Gesprächsstoff gäbe, dann wäre jedes weitere Wort überflüssig.
Franziska zählt sich zum Haus Targaryen und zeigt das ihren Schüler*innen durch die beste Kaffeetasse der Welt. Wenn die Reise aber ausnahmsweise nicht nach Westeros geht, dann nach Mittelerde, Skellige oder Sanktuario.