Häufig wird dem Fantasy-Genre vorgeworfen, nicht mehr als eine oberflächliche Fluchtmöglichkeit für Personen zu sein, die die Realität verdrängen möchten. Dabei nutzen wir alle regelmäßig eskapistische Strategien, um vor dem stressigen Alltag, schlechten Nachrichten und der Welt um uns herum zu flüchten. Doch wohin fliehen wir? Wie stellen wir das an? Und ist diese Realitätsflucht immer etwas Negatives?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zuerst klären, was Eskapismus überhaupt bedeutet. Laut dem Lexikon der Psychologie (Dorsch) ist Eskapismus die „Flucht vor der Realität, ggf. als Abwehrmechanismus“. Demnach kann theoretisch jede Aktivität eskapistische Ziele verfolgen. Sei es das Radfahren, Gärtnern, das Lesen oder einfach Fernsehen – alles kann dazu dienen, den Stress des Alltags zeitweilig zu vergessen. Das wissenschaftliche Magazin Spektrum definiert Eskapismus etwas genauer als „Flucht vor der Wirklichkeit und den realen Anforderungen des Lebens in eine imaginäre Scheinwirklichkeit“ und beantwortet damit schon die Frage, wohin wir flüchten. Es geht darum, die Grenzen des eigenen Daseins zu verlassen und in andere Welten abzutauchen.
Das bringt uns zur nächsten Frage: Wie flüchten wir aus dem Alltag, hinein in diese imaginäre Scheinwirklichkeit? Es gibt sicher viele verschiedene Möglichkeiten, um das zu tun. Eine, die immer wieder in Zusammenhang mit Eskapismus gebracht wird, ist Fantasy-Literatur. Diesem Genre wird oft vorgeworfen, realitätsfremde und oberflächliche Unterhaltung für Menschen zu sein, die vor der Realität flüchten wollen. Besonders kritisiert werden die vom Mittelalter geprägten, vereinfachten Gesellschaftsstrukturen in Fantasygeschichten, in denen offenbar die Probleme der realen Welt – politisch, sozial oder kulturell – ignoriert werden.
Alltagsflucht als Kernelement der Fantasy-Literatur
Den Eskapismus-Vorwurf gibt es vermutlich schon so lang, wie Fantasy-Literatur selbst. J. R. R. Tolkien äußerte sich in seinem Aufsatz Über Märchen wie folgt dazu:
„Warum einen Mann verachten, wenn er aus einem Gefängnis auszubrechen versucht, um nach Hause zu gehen? Oder, wenn er, weil ihm das nicht gelingt, an anderes denkt und von anderem redet als von Gefängniswärtern und Gefängnismauern? […] Mit Flucht, in diesem Sinne gebraucht, haben die Kritiker das falsche Wort gewählt; und, mehr noch, in einem nicht immer gutgläubigen Irrtum verwechseln sie den Ausbruch des Gefangenen mit dem Abfall des Deserteurs.“
Tolkien, J. R. R. (1939): Über Märchen
Für ihn ist Eskapismus ein essenzieller Bestandteil des Fantasy-Genres und damit eine von vier Funktionen, die Fantasygeschichten erfüllen sollten: Erstens die Fantasie der Leser anregen, zweitens Wiederherstellung ermöglichen und dabei helfen, einen neuen oder klaren Blick wiederzuerlangen, drittens Möglichkeiten zur Flucht bieten und viertens Trost spenden. Im Zitat erklärt Tolkien den Begriff „Flucht“ am Beispiel des Gefangenen, der aus dem Gefängnis ausbrechen will und der Flucht des Deserteurs. Während letzteres ein feiger Akt ist, um vor Verpflichtungen wegzurennen, ist der Fluchtgedanke des Gefangenen nachvollziehbar und kann als eine Art Abwehrmechanismus gesehen werden, um vor der Realität des Gefangenseins zu fliehen.
Menschen streben nach Freiheit – vom Gefängnisinsassen bis zum durchschnittlichen Erwachsenen, der sich in seinem Leben aus Arbeit und anderen Verpflichtungen gefangen fühlt. Für letzteren ist der Ausbruchsgedanke allerdings abstrakter. Wohin soll man flüchten, wenn man doch eigentlich schon in Freiheit lebt?
Fantasy bietet für viele Leser eine Fluchtmöglichkeit, da fantastische Welten nach klaren Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Magie lässt unmögliche Dinge möglich werden, Gut und Böse sind meist eindeutig trennbar. Es gibt Helden, mit denen man sich identifizieren kann und Feinde, die gemeinsam mit Gefährten bekämpft werden müssen. Werten wie Freundschaft, Treue, Gnade und Opferbereitschaft wird eine hohe Bedeutung zugemessen; die Fantasie der Leser wird angeregt. In ihrer Vorstellung entsteht eine neue Welt, in die man sich zurückziehen kann und in der die Sehnsucht nach dem Sieg des Guten gestillt wird.
Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass fantastische Literatur nicht automatisch eskapistisch ist. Die Geschichte ist letzten Endes nur das, was der Leser selbst daraus macht. Fantasy kann zwar Eskapismus befördern, aber ob und wie sehr er stattfindet, hängt vom Rezipienten selbst ab. Nicht jeder, der Der Herr der Ringe liest, flüchtet dabei aus der Realität. Aber wer gezielt nach Mittelerde reist und in die Welt von Frodo und Co. eintaucht, vielleicht selbst ein Teil davon wird, um den eigenen Alltag hinter sich zu lassen, dem kann durchaus ein eskapistisches Verhalten nachgesagt werden. Ist das schlimm?


Negative Konnotation trotz positiver Aspekte
Oftmals wird Eskapismus als etwas Negatives dargestellt – vor allem im Zusammenhang mit Fantasyliteratur oder auch Videospielen. Der Vorwurf lautet, dass Personen, die in fantastische Welten eintauchen und sich mit ihr und ihren Bewohnern identifizieren, nur vor den eigenen Problemen, den Aufgaben des Lebens oder der Tristesse des Alltags weglaufen. Passten sie nicht auf, würden sie irgendwann den Bezug zur Realität verlieren und nicht mehr in der echten Welt zurechtkommen. Natürlich kann eine extreme Form von Eskapismus zu Problemen in sozialen Beziehungen oder bei der Erledigung von Aufgaben führen, doch diese einseitige Betrachtung des Themas wird diesem nicht gerecht.
Ein weiterer Vorwurf ist, wie eingangs beschrieben, dass fantastische Literatur oberflächlich sei, Probleme aus der Welt des Lesers nicht behandle und somit keinen Mehrwert, außer der Unterhaltung, biete. Diese Argumentation missachtet aber, dass sich Fantasygeschichten durchaus mit Konflikten aus der realen Welt auseinandersetzen – auf eine abstraktere Weise. Diese Abstraktion kann es dem Leser erleichtern, einen neuen Blick auf diese Konflikte zu erlangen und dazu motivieren, sich auch real damit auseinanderzusetzen. Und das ist eine der Funktionen, die Tolkien der Fantasy-Literatur zuschreibt. Obwohl häufig davon ausgegangen wird, dass Eskapismus ein negativer Aspekt vor allem von Medienkonsum ist, zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass er positive Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden haben kann.
Ein Forscherteam um den norwegischen Psychologen Frode Stenseng untersuchte in mehreren Studien, was Personen zu eskapistischem Verhalten motiviert. Heraus kam ein zweidimensionales Modell, das zeigt, welche Motive gute oder schlechte Auswirkungen auf den Affekt haben. Dabei unterscheidet man positive und negative Affekte, also gutes und schlechtes emotionales Befinden. Die Autoren der Studien beschreiben zwei Formen von Eskapismus, die unterschiedliche affektive Ergebnisse hervorrufen. Diese hängen davon ab, wo der motivationale Fokus hinter der eskapistischen Aktivität liegt.
Das erste Motiv ist die Selbst-Erweiterung (self-expansion) und zeichnet sich dadurch aus, dass man durch die Aktivität positive Erfahrungen erlangen und neue Aspekte über das Selbst entdecken möchte. Wer sich beispielsweise von fiktionalen Charakteren und deren Wesen und Taten inspirieren lässt, um sich weiterzuentwickeln, handelt nach dem Promotionsfokus. Das bedeutet, dass positive Ergebnisse, wie ein gutes emotionales Befinden und ein positives Selbstbild, angestrebt werden. Wer sein Selbst durch Fantasy-Literatur erweitern möchte, kann dies tun, indem er Bezüge zur realen Welt herstellt und das Gelesene auf Bereiche seines eigenen Lebens überträgt.
Das zweite Motiv ist die Selbst-Unterdrückung (self-suppression) und ist gekennzeichnet durch das Bedürfnis, vor unangenehmen Gedanken, Emotionen oder einer negativen Selbstwahrnehmung wegzulaufen. Hier liegt deshalb der Fokus auf der Prävention. Das heißt, es werden nicht-negative Ergebnisse angestrebt. Dieser Fokus führt zu Vermeidungsstrategien, da negative Affekte vorgebeugt werden sollen. Ist die Unterdrückung des Selbst das eskapistische Motiv, wird ein Großteil kognitiver Ressourcen dazu verwendet, negative Affekte zu moderieren. Das führt dazu, dass nicht mehr genug Ressourcen zur Verfügung stehen, um positive Affekte zu verstärken. Somit führt dieses Motiv nur selten zu einer Steigerung des Wohlbefindens.
In einer Studie von Stenseng et al. aus dem Jahr 2020 wurde Eskapismus unter anderem im Gaming-Kontext untersucht. Dabei fand man einen Zusammenhang zwischen dem Selbst-Erweiterungs-Motiv und positiven Auswirkungen auf die Psyche, während das Selbst-Unterdrückungs-Motiv substanziell mit der Internet Gaming Disorder überlappte, also negative Auswirkungen zum Ergebnis hatte. Es kommt also darauf an, warum man sich eskapistisch verhält und welche Ausmaße dieses Verhalten annimmt. Die Dosis macht das Gift.
Zieht man sich zu lang in eine Scheinwelt zurück, kann das zur Folge haben, dass man wichtige Aufgaben aufschiebt, soziale Kontakte vernachlässigt, die Realität ignoriert und schließlich den Bezug zu ihr verliert. Flüchtet man aber bewusst und kontrolliert aus dem Alltag und kann problemlos in die Realität zurückkehren, kann das positive Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden haben. Stress wird reduziert, man kann Abstand zu Problemen schaffen und diese aus einem neuen Blickwinkel angehen. So, wie Tolkien es für Fantasy-Literatur vorsieht.
Eskapismus in der Psychotherapie
Eskapismus im weiteren Sinne wird auch in der Psychotherapie in Form einer Imaginationsübung angewendet, die sich „innerer sicherer Ort“ nennt. Dabei „bauen“ sich Patienten unter Anleitung eines Therapeuten einen imaginären Ort auf, an dem sie sich wohl und sicher fühlen. Zu einer groben Vorstellung kommen nach und nach mehr Einzelheiten hinzu, bis der Patient sich eine innere Realität aufgebaut hat, die nur für ihn zugänglich ist und keine spezifischen Elemente aus seiner äußeren bzw. tatsächlichen Realität beinhaltet.
Manchmal werden auch fantastische Orte, wie zum Beispiel Hogwarts, als sicherer Ort gewählt. Selbst in der Psychotherapie wird also eine gewisse Form von Eskapismus unter Anleitung angewendet, um Patienten dabei zu helfen, in Angst- oder Stresssituationen an einen sicheren Ort zu flüchten und sich lange genug daraus zurückziehen zu können, bis andere Methoden und Ressourcen zur Bewältigung der Situation genutzt werden können.
Eskapismus wird auch häufig von Personen genutzt, die an Depressionen oder Angststörungen leiden, um vor negativen Gedanken und Gefühlen zu flüchten. In vielen Momenten kann das hilfreich sein, um besser durch den Tag zu kommen, schwierige Situationen zu überstehen und den Affekt zu regulieren. Allerdings kann diese Flucht auch dabei hinderlich sein, sich mit seinen negativen Gefühlen, Gedanken oder Problemen auseinanderzusetzen. Dabei ist genau das wichtig, um besser mit ihnen umgehen oder sie gar lösen zu können.
Wie Tolkien im Zitat schon sagte, warum sollte man die ganze Zeit über seine Probleme nachgrübeln und sich immer wieder damit beschäftigen, wenn es einem doch nicht guttut? Warum sollte es verachtenswert sein, den Fokus eine Zeit lang auf imaginäre Scheinwirklichkeiten zu richten, um sich für den Moment von seinen Problemen zu lösen? Wichtig ist hierbei, wie schon erwähnt, dass man sich nur zeitweilig aus der realen Welt zurückzieht und die „Fluchtursachen“ nicht gänzlich ignoriert.
Die Flucht aus der Realität kann letzten Endes mit jeder Aktivität gelingen, in die man sich vertieft. Fantastische Welten eignen sich aber besonders gut, um dem Alltag kurzzeitig zu entfliehen und neue Perspektiven zu gewinnen. Eskapismus und Fantasy sind schon allein deshalb eng miteinander verwoben, weil die Fluchtfunktion laut Tolkien ein zentraler Bestandteil der fantastischen Literatur ist.
Diese Art von Realitätsflucht kann positive Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden haben. Betreibt man aber extremen Eskapismus und beginnt damit, sich von der Welt abzuschotten, können die Grenzen zwischen Realität und Scheinwirklichkeit verschwimmen und sich negativ auf das Leben auswirken.
Fantasy ist nicht gleich Eskapismus. Es ist aber eine attraktive Fluchtmöglichkeit, aus der Gefangenschaft unseres Alltags auszubrechen und über die Grenzen unserer eigenen Welt hinauszublicken.
Magdalena hat sich schon immer gefragt, warum Menschen so sind wie sie sind und studiert deshalb Psychologie. Aktuell betreibt sie erfolgreich Eskapismus in Stardew Valley und möchte dort auf ihrer Farm auch Wirsing anbauen.