Ausgabe 3Leitartikel

JENSEITS DES NORDWINDS

Ein Mythos im Wandel der Zeiten

„Vorhänge aus zartem Licht fielen wie vom Himmel herab […] mit einem Saum von tiefem, wie Höllenfeuer leuchtendem Karmesinrot.“

Pullmann, Philipp (1995): His Dark Materials: Northern Lights

Die erste Sichtung von Nordlichtern in His Dark Materials zeichnet ein Bild zerbrechlicher, heiliger Schönheit, aber auch außerweltlicher Bedrohung. Es ist der Mythos Norden – ein Motiv, das in der Popkultur inzwischen beinahe omnipräsent scheint. Von Game of Thrones über Skyrim, Vikings und Thor bis eben zu His Dark Materials (aktuell in Serienform adaptiert), der Mythos des Nordens ist allgegenwärtig. Doch was ist das eigentlich und wo liegen seine Wurzeln? Eine Spurensuche.

Mythos“ Norden? Ergreift die Flucht, es folgen Wortklaubereien!

Literaturwissenschaftlich betrachtet ist der Norden nur im allerweitesten Sinne ein Mythos. Präziser, wenn auch keineswegs unanfechtbar, handelt es sich um einen Topos. Bitte was?! Ein Topos (Plural Topoi) ist „ein literarisches […] Motiv, das sich durch Tradition verfestigt hat und damit zu einer Art gedanklichem Gemeingut geworden ist.“ Topoi sind recht vielgestaltig und umfassen eine ganze Bandbreite wiederkehrender Elemente. Archetypische Figuren gehören dazu: klassische Helden (Thor, Batman) oder die Mutter (Gaia, Maria, Catelyn Stark); aber auch Erzählmotive, wie die Schiffsreise (Odyssee, Titanic). Allen Topoi gemein ist eine beachtliche Veränderungsresistenz, wobei sie durchaus offen für Anpassungen und Interpretationen sind: zum klassischen Helden gesellt sich der Antiheld, zur Mutter die böse Stiefmutter; antike Schiffsreisen endeten in der glorreichen Rückkehr, seit der Moderne führen sie eher zum Desaster, wie in Moby Dick oder Titanic.

Auch Orte, Regionen und ganze Himmelsrichtungen können literarische Topoi sein. Für sie gelten die gleichen Regeln. Es gibt zwar Interpretationsspielraum, aber ihre Grundelemente halten sich hartnäckig im allgemeinen Gedächtnis. Der Topos des Nordens wird dabei bis heute vom Naturell seiner Bewohner einerseits, und von Übernatürlichkeit andererseits geprägt. Diese Attribute finden sich in der Popkultur von Skyrim bis Game of Thrones, sind aber tief in der Antike verwurzelt.

Ein Land und seine Bewohner

Wann immer in Filmen, Serien und Spielen Menschen des Nordens auftreten, stechen gewisse Eigenschaften sofort ins Auge. Sie sind wortkarg, kampfgewandt (und dabei ziemlich badass), und können dem bequemen Lebensstil südlicher Gefilde wenig abgewinnen. Vikings kommt hier als erstes in den Sinn, aber auch Game of Thrones und Skyrim benutzen diese Motive. Ihr Ursprung liegt jedoch in der römischen Darstellung Britanniens.

Britannien stellte im antiken Weltbild eine Zeitlang den äußersten Norden dar. Seine Abgeschiedenheit machte es für die stets expansionsfreudigen Römer zu einer ganz speziellen Herausforderung. Um 50 v. Chr. versuchte man sich unter Julius Caesar erstmals in einigen Scharmützeln. Aber das Inselvolk erwies sich (trotz Teepausen und Wochenende) als ausgesprochen widerstandsfähig. Erst 170 Jahre später schloss das Imperium seine Eroberung Britanniens ab… mehr oder weniger. Bis auf die Höhe des heutigen Newcastle-upon-Tyne drang Kaiser Hadrian vor, baute dort einen Schutzwall und ergriff dann eilig die Flucht. Britannien war zu unwirtlich und seine Bewohner schrecklich eroberungsresistent. Noch schlimmer sah es jenseits von Hadrians Mauer aus: das Land ganz und gar lebensfeindlich, die dort hausenden Pikten martialisch und dämonisch. Dessen war man sich schon seit Tacitus bewusst. Der Historiker hatte Ende des 1. Jahrhunderts die umfassendsten – und bis heute besterhaltenen – römischen Aufzeichnungen über Britannien verfasst. Aus zweierlei Gründen sind diese jedoch mit Vorsicht zu genießen. Erstens hat Tacitus das Karl-May-Problem: er war nie selbst in Britannien und berichtet nur vom Hörensagen. Zweitens stellt er die Briten zwar als unzivilisierte Hinterwäldler dar, lobt aber gleichzeitig ihre Lebensweise und Widerstandsfähigkeit über den Klee. Dies wiederum primär, um seine Mitrömer zu kritisieren. Die ergingen sich seinerzeit nämlich zunehmend in Dekadenz.

Doch die Zutaten für das Motiv des Nordmenschen sind damit zusammengetragen. Das Mittelalter brachte dann einige Anpassungen. Der Norden wanderte nach Skandinavien; seine Bewohner wurden nun größtenteils negativ dargestellt. Einerseits weil die Wikinger mit ihren Raubzügen nicht gerade gute PR betrieben, andererseits weil die christlichen Chronisten den Norden zur Brutstätte der Ungläubigen erkoren. Eine Expansion in derartige Gegenden wurde dadurch, wie schon bei den Römern, besonders prestigeträchtig. Nur ging es nun nicht mehr um militärische Stärke, sondern darum, diese heidnischsten aller Heiden zu unterwerfen. Die Bewunderung, welche Tacitus zum Ausdruck gebracht hatte, fiel dabei jedoch unter den Tisch – wo sie bis in die Moderne liegen blieb.

Die kriegslustigen Wikinger sind seit dem Mittelalter ein Sinnbild des barbarischen Nordens.

In der Popkultur werden all diese Elemente aufgegriffen: das spezielle Naturell der Nordmenschen, das Spannungsverhältnis zum Süden und die religiösen Konfliktfelder. Besonders in Skyrim und Game of Thrones kann man sie entdecken. Die Provinz Himmelsrand (engl. Skyrim) wurde speziell für das Volk der Nord entwickelt. Es ist eine unwirtliche, kalte aber auch bezaubernde Landschaft, deren Bewohner perfekt an die Lebensumstände angepasst sind und weder Kampf noch Tod scheuen. Die Andersartigkeit und Abgrenzung zum Rest des Kontinents Tamriel wird dabei stark hervorgehoben. Zur Zeit des Videospiels Skyrim tobt ein Bürgerkrieg in Himmelsrand. Die Thalmor, ein arrogantes Elfenvolk aus dem weiten Süden, haben den Kontinent unterjocht und zu allem Überfluss die Anbetung des Kriegsgottes Talos verboten. Dieser ist jedoch speziell in Himmelsrand extrem populär. So kommt es zur Rebellion der Sturmmäntel – ein Kampf um Unabhängigkeit und Religionsfreiheit, welchem Spieler auf beiden Seiten beitreten können.

Der Norden in Game of Thrones unterscheidet sich ebenfalls signifikant vom restlichen Westeros. Wie in Himmelsrand sind die Menschen hier besonders von den speziellen naturräumlichen Gegebenheiten geprägt und folgen einer anderen Religion als die übrigen sechs Königslande. Konfliktpotenzial bietet aber eher das Verhältnis zum Süden. Während die Bewohner des Nordens mit wenig auskommen, stets zusammenhalten, nobel und gerecht sind, versinkt der Süden in Dekadenz und Intrigen. Dieses Spannungsfeld eskaliert bereits recht früh in der Geschichte, als der ehrenvolle Eddard Stark, Hüter des Nordens, in die Hauptstadt King’s Landing abkommandiert wird. Er versucht dort mithilfe seiner hohen nördlichen Moralvorstellungen zu überleben, kommt aber gerade dadurch letztlich zu Tode. Eddards geistiges Erbe besteht jedoch fort – besonders in seinem „Bastard-Sohn“ Jon Snow. Dieser lernt im Handlungsverlauf, dass der Norden, wie er ihn versteht, nur die halbe Wahrheit ist. Es gibt einen echten Norden – und dieser ist übernatürlich.

Der übernatürliche Norden

Jon Snows Geschichte führt ihn in das unwirtliche Land nördlich des Hadrianswalls der Mauer. Die Grenzen zum Übernatürlichen stellen sich hier bald als ziemlich porös heraus. Es gibt Riesen, Mammuts, Kinder des Waldes. Und Weiße Wanderer. Sie kommen aus dem höchsten Norden, dem Land des Ewigen Winters. Auf den Karten von Westeros wird dies schlicht als undefinierte Schneefläche dargestellt. Man begreift schnell: je nördlicher, desto übernatürlicher. Eine Auffassung, die ebenfalls bis weit in die Antike zurückreicht.

Schon die altorientalischen Hochkulturen verfügen über eine mythische Vorstellung des Nordens. Wenig überraschend dringen von dort invasionsfreudige Barbaren vor, doch ist es eben auch ein spiritueller Ort. In manchen Erzählungen befindet sich dort gar der Wohnsitz der Götter. Eine Mischung aus Angst und Bewunderung für den Norden bestimmt die alten Mythen und wird später von den Griechen aufgegriffen. Herodot berichtet im 5. Jahrhundert v. Chr. von den Hyperboreern (hyper = jenseits, borea = Nordwind). Hyperborea ist ein paradiesisches Land, dessen Bewohner eine besonders enge Verbindung zum Gott Apollon haben. Leider bleibt Herodot eine Lagebeschreibung schuldig und bietet damit bis heute einen Nährboden für wildeste Spekulationen.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der sagenumwobenen Insel Thule, die einhundert Jahre nach Herodot vom griechischen Seefahrer Pytheas aus Massalia entdeckt wurde. Pytheas identifizierte sie als den Nordrand der Welt und lokalisiert sie sechs Tagesreisen nördlich von Britannien. Auch hier wird noch immer debattiert, ob es sich (beispielsweise) um die Lofoten, die Färöer-Inseln oder Island handelte. Thule wurde in der allgemeinen Wahrnehmung schnell mythisch aufgeladen und erinnert in römischen und mittelalterlichen Schriften eher an Avalon oder Atlantis. Gemein ist den antiken Berichten der Gedanke eines weit entfernten, irgendwie jenseitigen Nordens, der zumeist von einem wilden Kriegervolk bewacht wird.

Auch das christianisierte Europa des Mittelalters greift diese Vorstellungen auf, entledigt sich allerdings erneut der ganzen unerfreulichen Ambivalenzen. Der äußerste Norden hat zwar übernatürliche Qualitäten, aber dort kann freilich kaum ein Göttersitz sein – stattdessen ist er Ursprung des Bösen, Hort der Magie, Zentrum der Hexerei. Im Laufe der technologischen Weiterentwicklung bleiben diese Attribute im allgemeinen Bewusstsein haften, das mythische Land verschiebt sich jedoch immer weiter Richtung Nordpol, was Anfang des 20. Jahrhunderts auch wieder den Entdecker- und Expansionsdrang weckt. Der äußerste Norden bleibt jedoch geheimnisumwoben.

Die Schneekönigin (Illustration von Rudolf Koivu)

Für Fantasy und ihre Geschwistergenres stellt dies eine ertragreiche Inspirationsquelle dar. Hans Christian Andersen verfrachtet sein Kunstmärchen Die Schneekönigin (1844) in ein verzaubertes Winterreich im Hohen Norden, wobei die titelgebende Zauberin dem Zeitgeist entsprechend bösartig ist. Ein Jahrhundert später greift C. S. Lewis, ein Wegbereiter der modernen Fantasy, dies in Der König von Narnia wieder auf. Seine Antagonistin, die Weiße Hexe Jadis, repräsentiert den Norden, den Winter und das Böse. Insgesamt, jedoch, sind seit dem 20. Jahrhundert die Darstellungen deutlich ambivalenter geworden, wobei diese Veränderungen fast ausschließlich interpretativer Natur sind. Die Grundelemente des übernatürlichen Nordens bleiben fest in der Antike verankert.

In H. P. Lovecrafts Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath versucht der Protagonist den Sitz der Götter zu finden. Die Götter sind guter Natur und nicht zu verwechseln mit den Großen Alten (Cthulhu und Konsorten). Ihre Wohnstätte liegt auf dem Berg Kadath, inmitten einer Eiswüste, jenseits der frostigen Ebene von Leng, die von bösartigen Kreaturen bevölkert wird. Die Verwurzelung in den antiken Mythen ist hier kaum zu übersehen.

Deutlich nuancierter geht es in Game of Thrones, oder speziell der Buchvorlage A Song of Ice and Fire, zu. Auf den ersten Blick repräsentiert der äußerste Norden das Böse: von dort kommen die Weißen Wanderer und bringen Kälte, Winter, Tod. Doch, wie der Titel der Buchreihe schon andeutet, geht es um die goldene Mitte. Ja, warm ist gut und kalt ist schlecht. Aber Feuer zerstört auch, während Eis konserviert. Der Blickwinkel zählt, die Interpretation bestimmt, wie der Topos Norden verstanden wird. Nicht zuletzt wird dies auch in His Dark Materials deutlich. Der übernatürliche Norden spielt hier eine tragende Rolle. Er wird als verzaubertes Wunderland beschrieben, ist aber durchaus furchteinflößend. Hexen wohnen dort und kampfgewaltige Panserbjørne (Panzerbären). Doch sind dies keine Bösewichte. Die Antagonistin der Geschichte ist Mrs. Coulter, vom Benehmen her eiskalt und kaum subtil der Weißen Hexe Jadis nachgezeichnet. Sie repräsentiert aber nicht den Norden, sondern… die Kirche.

Es sind die immer-gleichen Grundelemente, die den Topos Norden charakterisieren. Seit der Antike sitzen sie im Universalgedächtnis fest. Es sind die unzähligen Interpretationsmöglichkeiten, die wie eine frische Brise wirken und den Grundgedanken weitertragen. Wohin? Bis jenseits des Nordwinds. Mindestens.

Christian hat eine besondere Zuneigung zum geschrieben Wort und ersinnt dabei immer wieder neue Möglichkeiten, das Ende seines Studiums hinauszuzögern. Er zerreißt gern Filme und Serien in der Luft. Sein Zweitwohnsitz liegt in Westeros.

Quelle
Andersen, Hans Christian (1844): Die SchneeköniginBenioff, David; Weiss, D. B. (2011-2019): Game of ThronesBethesda Game Studios (2011): The Elder Scrolls V: SkyrimLewis, C. S. (1950): Der König von NarniaLovecraft, H. P. (1943): Die Traumsuche nach dem unbekannten KadathMartin, George R. R. (seit 1996): Das Lied von Eis und FeuerPullmann, Philipp (1995): His Dark Materials: Northern LightsAndreotti, Mario (1988): Der Topos - eine literarische StilfigurBarraclough, E. R.; Cudmore, D.; Donecker, S. (2013): Der übernatürliche Norden. Konturen eines Forschungsfeldes

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