AQUILERIA - Sagen & Legenden

JOSELIAS SPIEGEL

AQUILERIA ist eine mittelalterliche, fantastische Welt voller Geheimnisse und Abenteuer. Eine Welt mit eigenen Landschaften, Königreichen, Kulturen, Religionen und Zeitrechnungen. Eine Welt, in der es ganz besondere Orte, Pflanzen, Tiere und Phänomene gibt, ebenso wie ganz besondere Heldinnen und Helden, die sich nie als solche verstehen und bezeichnen würden. Eine Welt, in der sich die Menschen Geschichten, Märchen, Sagen und Legenden erzählen, die von Dingen berichten, die unvorstellbar, lehrreich, magisch, gruselig oder einfach nur unterhaltsam sind. Eine Auswahl dieser Erzählungen, zusammengefasst unter „AQUILERIA · Sagen & Legenden“, veröffentlichen wir exklusiv hier im Wirsing-Magazin. Sie ergänzen die bisherigen Bücher aus der Feder von Alexander Büttner um eine neue, mythische Komponente.

Eine Anekdote über Joselias Schönheit – und den kleinen Bach Thyrhiu.

„Jetzt hör mir doch mal zu!“

Deb, in Gedanken, immer wieder.

Es geschah eines Tages, dass unter den Menschen ein kleines Mädchen geboren wurde. Das war an sich noch nichts besonderes, doch kamen die stolzen und glücklichen Eltern auf die Idee, dem kleinen Wesen den Namen der Göttin des Schönen und der Freuden des Lebens, Joselia, zu geben – etwas, das es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Sie hofften, dass dieser Name dem kleinen Mädchen die Gunst der Ewigen sichern würde, und um das in Würde zu feiern, planten sie ein großes Fest. 

Von diesem Vorhaben erfuhren nun die Ewigen, so wie sie über alles Bescheid wussten, das in der Welt der Menschen vor sich ging. Joselia, die Göttin, war voller Vorfreude auf dieses Fest. Zum einen, weil sie sich doch sehr geschmeichelt fühlte. Zum anderen, weil sie schlichtweg Feierlichkeiten liebte. Und so beschloss sie, sich zu schmücken, edel zu kleiden und dem großen Fest zu ihren Ehren beizuwohnen. Doch eines gab es dabei zu bedenken: Selbst wenn es den meisten Menschen nicht vergönnt war, die Anwesenheit der Götter auch nur zu erahnen, so gab es doch einige Auserwählte, die diese besondere Gabe besaßen. Und wenn ein menschliches Auge sie schon erblickte, sollte es sie von ihrer besten und schönsten Seite sehen. 

Der Tag der Feierlichkeiten kam heran, und da Joselia stellvertretend für die gesamte Ewige Familie zu den Menschen gehen würde, bekam sie von jedem ihrer göttlichen Verwandten etwas, das sie zur Feier tragen sollte. Unter diesen Geschenken waren ein Kleid aus Wolle, geschoren von Audras Schafen, ein weiter Hut aus Stroh von Kol, der würzig und blumig roch, sowie ein Armreif, geschmiedet aus Stahl, das die Zwillinge aus den Waffen besiegter Feinde gewonnen hatten. Von Jarik, ihrem Vater, bekam die schöne Joselia einen Umhang aus dem Pelz wilder Tiere, der sie bedecken sollte, denn die Menschen sollten sie demütig anbeten, nicht sie begehren – das waren seine Worte. Und von dem kleinen, taubstummen Deb erhielt sie schließlich eine handgeschriebene Liste mit allerlei nützlichen Dingen, die es über die Menschen, die der Feierlichkeit beiwohnen würden, zu wissen gab. 

Als Joselia sich nun anziehen und zurechtmachen wollte, fiel ihr auf, dass ihr Spiegel verschwunden war. Sie suchte ihn voller Ungeduld, denn ohne ihn, so war sie überzeugt, würde sie ihr Antlitz nicht zu vollem Zauber bringen können. Sie suchte und suchte, und als sie ihn nicht finden konnte, ging sie zu ihrer Mutter Audra. Bei ihr war der kleine Deb und beide hörten ihren Kummer, doch Audra hatte den Spiegel nicht gesehen und Deb, wie so oft, machte nur ein nachdenkliches Gesicht. Joselia

konnte sicher sein, dass er ihr die Worte von den rosigen Lippen abgelesen hatte. Nur helfen konnte auch er ihr nicht. 

So ging Joselia als nächstes zu ihrem Vater, der jedoch keinen Sinn für ihre Nöte hatte und sich wichtigeren Dingen zu widmen hatte. Mit knappen Worten schickte er sie zu ihrem Bruder Kol, den er bei der Ernte auf den Feldern wähnte. Auf dem Weg dorthin kam der kleine Deb ihr entgegen, und er gab ihr mit Winken und Gesten zu verstehen, ihm zu folgen. Er führte seine große Schwester zu einem kleinen Bach, dem sie den Namen Thyrhiu gegeben hatten. In Erwartung, auf dem Grund des Wassers oder im Gras der Böschung ihren Spiegel zu entdecken, ärgerte sich Joselia jedoch sehr über die verlorene Zeit, als sie ihre Hoffnung enttäuscht sah. Zornig schlug sie mit den Händen auf das Wasser, wodurch die Liste, die Deb eigens für sie angefertigt hatte, nass wurde und die Tinte, mit der die Worte geschrieben waren, Tränen gleich verliefen. Joselia bedauerte dieses Geschehen, doch nur kurz, denn zu ändern war es nicht mehr und ihr Spiegel blieb noch immer verschollen. 

So ließ sie Deb und das nasse Stück Papier am Bach zurück und machte sich endlich auf die Suche nach Kol. Nachdem sie ihm von ihren Problemen berichtet hatte, fand der jedoch nur ein heiteres Lachen für sie. Unwissend über die vorherigen Geschehnisse, deutete er stattdessen auf den kleinen Deb, der aus der Ferne mit einem neuen Schriftstück in der Hand auf sie zueilte. Da Joselia meinte, ohne ein ansprechendes Äußeres auch mit der Liste, die ihr kleiner Bruder sicher wieder angefertigt hatte, nichts anfangen zu können, wartete sie gar nicht erst auf ihn. Stattdessen machte sie sich auf, die Zwillinge zu fragen, ob sie vielleicht ihren Spiegel in einem Streich entwendet – oder ihn wenigstens gesehen – hatten. 

Jarn und Idira waren nicht schwer zu finden, denn der Hall ihrer Waffenübungen wies Joselia weithin den Weg. Bei den schwitzenden, aber glücklich strahlenden Zwillingen angekommen, erreichte sie jedoch nichts Neues – auch sie konnten ihr nicht helfen. Die Dämmerung kündigte sich nun an, und während Joselia sich entmutigt Kols Strohhut vom Kopf nahm, um sich damit Luft zuzufächern, kam der kleine Deb heran, riss ihr ohne Vorwarnung den Hut aus den Fingern und rannte mit ihm von dannen, wobei er ihn über seinem Kopf schwenkte wie eine Flagge, die er als Trophäe soeben erobert hatte.  

Diese Wendung war so recht nach dem Geschmack der Zwillinge, und unter ihrem vergnügten Gelächter nahm Joselia die Verfolgung des kleinen Bruders auf, bis sie ihn erschöpft und mit schmerzenden Füßen am Ufer des kleinen Baches Thyrhiu einholte, wo er schon geduldig auf sie wartete. Joselia forderte ihn nun, vor Entrüstung und Verzweiflung bald den Tränen nahe, auf, ihr wenigstens den Hut zurückzugeben, damit sie unter seiner breiten Krempe wenigstens ihr Antlitz verstecken konnte, wenn es ihr schon nicht vergönnt war, es angemessen herzurichten. Stattdessen hielt Deb ihr jedoch den Zettel hin, und anstatt einer neuen Auflistung nützlicher und pikanter Erkenntnisse über die Menschen, die Joselia erwartet hatte, las sie dort vier einfache Worte: Schau in den Bach. 

Gerade, als Joselia nun entgegnen wollte, dass sie das bereits getan und ihren kostbaren Spiegel dort nicht gefunden habe, schaute sie nochmal unwillig zum Wasser und erkannte jetzt, da sie es in Ruhe betrachtete, ihr eigenes Spiegelbild auf seiner Oberfläche. Und so verstand die Schöne, dass nicht den Spiegel der kleine, schlaue Bruder hatte ihr zeigen wollen, sondern in seiner Weisheit auf eine andere Lösung für ihr Problem gekommen war. Joselia musste sich eingestehen, wie unrecht sie dem braven Deb den ganzen langen Tag über getan hatte, sank vor ihm auf die Knie und drückte ihn mit einem Herz voll Dankbarkeit und Reue an die Brust. Der kleine Bruder ließ sie kurz gewähren, schob sie dann aber mit sanftem Druck von sich, deutete auf das Spiegelbild, als wolle er sie auffordern, endlich ihrem ursprünglichen Ansinnen nachzukommen, und holte eine weitere leere Seite samt Federkiel und Tinte aus seiner Tasche hervor, um die nass und unleserliche Liste schließlich zu ersetzen. 

Joselia jedoch hielt ihn davon ab, warf einen letzten, flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild, um die wenigen Spuren ihrer Jagd zu richten, und lud ihren kleinen Bruder Deb sodann ein, sie zum Fest doch zu begleiten. Denn der einzige Schmuck, den sie nun noch tragen wollte, war die Klugheit ihres kleinen, findigen Bruders – und vielleicht übertrug sich auch davon etwas auf das kleine Mädchen, das dann schön und geistreich zugleich werden würde. 

Seither sagt man, dass ein besonders pfiffiges und anmutiges Kind mit den Wassern des Thyrhiu gewaschen sei; und seither findet man auch in allen Winkeln der Welt bemerkenswert viele Bäche, denen vielleicht die Ewigen, vermutlich aber in den meisten Fällen doch eher die Menschen den Namen Thyrhiu gaben.

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Alexander ist Schriftsteller, freier Redakteur, Projektmanager und Verlagsleiter. Aus seiner Feder stammt unter anderem die AQUILERIA-Reihe. Zudem betreibt er zusammen mit Caroline Loße den Buchblog Beardy Books, auf dem er vor allem über Abenteuergeschichten berichtet, die irgendwo zwischen Antike und dem Indiana Jones-Zeitalter der Dreißiger Jahre angesiedelt sind - oder die er im Kinderzimmer seines Sohnes findet. Daneben engagiert er sich für Nachhaltigkeit und den Erhalt von Wildnis- und Urwaldflächen (unter anderem im Rahmen von Wilderness International) und hat ein großes Herz für Crossmedia Storytelling.

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