Ausgabe 4Was wäre wenn?

LEBEN WIR IN EINEM VIDEOSPIEL?

Wenn Matrix nun doch Recht hat...

Wir alle kennen es: Déjà-vus, optische Täuschungen, bizarre Zufälle. Manches, was uns tagtäglich passiert, ist einfach unerklärlich. Und mitunter postuliert der ein oder andere schmunzelnd, dass es sich bei einem seltsamen Ereignis wieder mal um einen „Fehler in der Matrix“ handeln muss. Doch was im ersten Moment nur scherzhaft gemeint ist, könnte eventuell schockierend real sein. Was wäre, wenn in dem Science-Fiction-Klassiker mit Keanu Reeves mehr Wahrheit steckt, als wir zugeben möchten?

Mit waghalsigen Kugelausweichmanövern und surrealen Kampfszenen, die Raum und Zeit ignorieren, eroberte Matrix im Jahr 1999 nicht nur den Science-Fiction-Olymp, sondern etablierte sich auch in der Riege der populärsten Filme aller Zeiten. Dabei sind es nicht nur die typischen Surrgeräusche oder die Badass-Outfits der Charaktere, die den begeisterten Rezipienten im Gedächtnis bleiben. Die dem Film zugrunde liegende Annahme ist vielmehr das, was eigentlich Eindruck hinterlässt. In Matrix (welches übrigens bald einen brandneuen vierten Teil bekommt) leben die Menschen in einer normalen Welt. Doch der Schein trügt, alles ist nur Fassade. Denn in Wirklichkeit vegetiert jedes menschliche Individuum willenlos in einem Tank vor sich hin – versklavt von Maschinen zur Aufrechterhaltung des Energiesystems. Mithilfe hochmoderner Technologie projizieren die tyrannischen Roboter die Simulation eines alltäglichen Lebensumfeldes in das Bewusstsein der Gefangenen: die Matrix.

Auf den ersten Blick denkt man sich: klassische unrealitsisch-überzogene Science-Fiction. Doch irgendwo in unserem Gehirn lauert die Erkenntnis, dass ein solches Szenario eventuell gar nicht so abwegig ist, wenn man den düsteren Dystopismus mal beiseite lässt und sich nur auf das Fundament konzentriert. Das tat auch der schwedische Philosoph Nick Bostrom. Der Oxford-Professor entwickelte im Jahr 2003, als die beiden Sequels von Matrix gerade die Kinokassen füllten, das Simulationsargument. Dabei handelt es sich um ein theoretisches Denkmodell, welches Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten erörtert, nach welchen die menschliche Zivilisation lediglich als eine Ansammlung künstlicher Intelligenzen innerhalb einer Simulation existiert. Bezogen auf diese Fragestellung formulierte Bostrom drei Optionen, die sich gegenseitig ausschließen und wovon eine wahr sein muss:

Die posthumane Zivilisation

Die Grundannahme des Arguments unterteilt Zivilisationen in zwei Kategorien. Es gibt jene, die in der Lage sind, durch enorme Computerleistung und unschätzbares Wissen eine Simulation zu erzeugen, in der eine virtuelle Welt inklusive bewusstseinsfähigen Wesen auf einem derart hohen Detailgrad abgebildet werden können, dass es im Auge des Betrachters real erscheint. Und es existieren jene Zivilisationen, die das nicht können. Wenn der erste Punkt von Bostroms Argument zutrifft, erlangt die Menschheit diese Stufe nicht, bevor sie von der Bildfläche des Universums verschwindet. Ergo würden wir nicht in einer Simulation leben.

Im Jahr 2003, als neuste Videospiele grafisch noch schlechter aussahen als aktuelle Gratisbrowsergames, klang die Vorstellung einer posthumanen Menschheit sicherlich mehr nach Science-Fiction als heutzutage. Doch schaut man sich die technologische Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte an, kann man nur noch staunen. Bereits in vergangenen Jahrhunderten entwickelte die Menschheit immer fortschrittlichere Innovationen: Dampfmaschine, Glühbirne, Telefon. Das Computerzeitalter stellte einen neuen Meilenstein dar. Betrachtet man aktuelle Prozesse bezüglich globaler Kommunikationsmöglichkeiten, künstlicher Intelligenz oder virtueller Realität, wird einem schnell klar: was gestern noch Science-Fiction war, ist heute Wirklichkeit. Selbst für Menschen, die jene Erfindungen der letzten 20 Jahren miterlebt haben, übersteigt manches bereits jetzt den Horizont des Vorstellbaren.

Umso abgestumpfter reagieren wir auf Sci-Fi-Produktionen, die auf einem solchen Simulationsthema basieren. Steven Spielbergs Ready Player One aus dem Jahr 2018 beschreibt eine nahe Zukunft, in der Menschen aufgrund der immer trost- und hoffnungsloseren Realität in eine virtuelle Ersatzwelt fliehen und dort im Onlinemultiplayermodus Spiele absolvieren, Freunde treffen und ihr Leben verbringen. Die Erfolgsserie Westworld handelt von einem Vergnügungspark, in dem reale Menschen intelligente Roboter (in Menschengestalt) nach Lust und Laune verprügeln, vergewaltigen oder ermorden können – um der Unterhaltung willen. Mit dem Wissen der heutigen Technologie sind diese Szenarien keine abnormale Zukunftsmusik mehr. Virtuelle Realität und humanoide KI-Roboter existieren bereits und werden immer weiter ausgefeilt. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der endgültige Durchbruch in diesen Technologiefeldern gelingt und wir nicht mehr Wirklichkeit von Fiktion und Mensch von Maschine unterscheiden können.

Es gibt demnach wenige Argumente, die dagegen sprechen, dass die irdische Zivilisation früher oder später die posthumane Stufe erreichen wird. Manche Wissenschaftler gehen zwar davon aus, dass sich die Menschheit immer weiter ihrem schöpferischen Zenit nähert, doch dieser Punkt hätte genau so gut bereits nach der Erfindung des Internets, des Flugzeuges oder der Bronzeaxt kommen können. Unter logischen Gesichtspunkten geht die rasante technologische Entwicklung noch weiter.

Das Interesse an Simulationen

Das gegenwärtige Stadium der Menschheit mit einer biologisch-evolutionistischen Basis könnte also in kommenden Epochen überwunden werden. Die weitere Entwicklung unserer Spezies würde mithilfe von künstlicher, computergestützter Intelligenz erfolgen – nicht nur in der Entertainmentbranche, wie es Ready Player One oder Westworld andeuten.

Unterhaltung ist nur ein Grund von vielen, wieso eine solch gigantische Simulation, wie es unsere Stadt, unsere Welt, unser Universum sein könnte, existieren würde. In Matrix dient sie der Aufrechterhaltung der Energieversorgung, in Die Bestimmung/Divergent liegt ein genetisches Experiment zugrunde, in welchem der perfekte Mensch im Rahmen eines simulationsartigen Experiments gezüchtet werden soll. Derartige Hintergründe sind meist sehr dystopisch und deprimierend – und aufgrund ihrer Komplexität für den menschlichen Verstand schwer greifbar. Entertainment jedoch ist alltäglich und nachvollziehbar. Deshalb können sich Menschen der heutigen Zeit am ehesten vorstellen, dass eine solche Simulation aus Unterhaltungszwecken existiert.

Auch hier liefert uns die Filmindustrie schon einige Beispiele, die nicht realer sein könnten. Auf einer nicht-technischen Ebene ist der Klassiker Die Truman Show aus dem Jahr 1998 eine Entertainment-Simulation. In dem Film lebt der von Jim Carrey verkörperte Protagonist ein scheinbar normales (wenn auch ereignisarmes) Leben, bis er eines Tages erfährt, dass sämtliche Aspekte seines Daseins vorbestimmt sind. Seine Heimatstadt liegt isoliert unter einer Kuppel, seine Mitmenschen sind Schauspieler mit vorgefertigten Rollen, sein Leben wird rund um die Uhr aufgezeichnet und dient Millionen Menschen vor den Bildschirmen weltweit als seichte Unterhaltung. Big Brother lässt grüßen.

Heben wir das auf eine technische Ebene, kommen wir schnell zurück zur virtuellen Realität von Videospielen. Der neuste Film mit Ryan Reynolds, Free Guy, ist quasi eine moderne Umsetzung der Truman Show: der Titelheld lebt vor sich hin, bis er irgendwann herausbekommt, dass er in Wirklichkeit nur eine Figur in einem Onlinegame ist. Er ist ein sogenannter non-playable Character (nicht-spielbarer Charakter), der lediglich existiert, um den realen Gamern den Eindruck einer immersiven Welt zu vermitteln. In den meisten Multiplayerspielen gibt es solche Figuren, die „ihr ganzes Leben“ nichts anderes tun, als Dinge zu verkaufen, Aufgaben (Quests) zu verteilen oder als Kanonenfutter zu dienen.

Es liegt also auf der Hand, dass die menschliche Zivilisation durchaus Interesse daran hat, umfangreiche Simulationen zu erstellen. Dies geschieht bereits seit Jahren in Form von gigantischen Onlinewelten (z.B. World of Warcraft), ultrarealistischen Sportsimulationen (z.B. FIFA) oder immer detailreicheren Aufbauspielen (z.B. Sim City). Wieso sollte dieses Interesse in Zukunft abnehmen? Ganz im Gegenteil, aus logischer Sicht dürfte das Verlangen nach virtueller Realität, auch aufgrund der unbegrenzten Möglichkeiten, bald ins Unermessliche steigen und schließlich darin gipfeln, dass wir Simulationen unserer eigenen Zivilisationsgeschichte entwerfen. Vielleicht ist dies auch bereits geschehen und wir haben, im Gegensatz zu Truman und Guy, unsere Fake-Existenz nur noch nicht erkannt.

Wir leben in einer Simulation

Wenn demnach die ersten beiden Annahmen von Bostroms Argument nicht zutreffen, müssen wir zwangsläufig Bestandteil einer künstlichen Simulation sein. Nach Einschätzung des schwedischen Philosophen liegt die Wahrscheinlichkeit dafür bei etwa 20%, doch ähnlich wie die Gottesfrage kann die Simulationshypothese nach aktuellem Stand weder bewiesen noch falsifiziert werden. Zahlreiche Wissenschaftler betrachten dieses Szenario jedoch als logische Konsequenz: unser superkomplexes Universum mit seinen physikalischen Konstanten und lebensbegünstigenden Naturgesetzen schreit laut renommierten Forschern nahezu danach, nicht zufällig, sondern innerhalb eines Programms entstanden zu sein. So wie ein Videospiel, welches bestimmte Grafikanforderungen benötigt und technischen Rahmenbedingungen unterworfen ist. Zu dem illustren Kreis jener, welche die Simulationshypothese für möglich halten, zählen unter anderem der britisch-königliche Hofastronom Martin Rees, der Faraday-Preis-Gewinner Paul Davies oder Michiu Kaku, Mitentwickler der Stringtheorie.

Einige Wissenschaftler jedoch bringen auch stichhaltige Argumente gegen die Existenz einer solchen Simulation vor. Hauptsächlich wird die Rechenfähigkeit zukünftiger Computer angezweifelt. Es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass ein Netzwerk aus Maschinen eine derart hochauflösende und detailreiche Version unseres Universums erzeugen und für längere Zeit aufrechterhalten kann. Ebenso sind manche Forscher dem simulierten Bewusstsein gegenüber skeptisch. Ein derart komplexes System wie das menschliche Bewusstsein inklusive seiner Identität müsse von einem Computer kontinuierlich versorgt werden, was wiederum eine enorme Rechenleistung benötigt. Doch bei all diesen Dingen muss man bedenken, dass unser Horizont begrenzt ist. Ein Steinzeitmensch verstünde wohl kaum etwas, wenn wir ihm vom Internet erzählen würden, geschweige denn könnte er es sich aus eigenen Stücken zusammenreimen. Und so verhält es sich mit dieser Hypothese. Nur weil wir etwas nicht logisch nachvollziehen können, heißt das nicht, dass es unmöglich ist.

Gehen wir also der Simulationshypothese weiter auf den Grund und fragen uns abschließend, was die Konsequenz dieser bahnbrechenden Erkenntnis wäre. Höchstwahrscheinlich wird die Menschheit nie beweisen können, ob wir in einem künstlichen Programm leben oder nicht. Dementsprechend wäre es sinnvoll, sich nicht allzu viele Gedanken über diese Möglichkeit zu machen. Der Philosoph Hubert Dreyfus meint etwa, dass es einem Menschen im Grunde genommen egal sein könne, ob er real oder programmiert ist, solange es ihm gut geht und er sein Leben nach (vermeintlich) eigener Vorstellung verbringen kann. Und in der Tat könnte sich zu intensives Nachbohren negativ auswirken. Schließlich wissen wir nicht, wer hinter unserer Simulation steckt. Würden zu viele Menschen dem Großen und Ganzen auf die Schliche kommen, könnte es passieren, dass unsere Programmierer durchgreifen müssen, was durchaus ein beängstigender Gedanke ist. Allerdings könnte es auch sein, dass wir alle keinerlei freien Willen besitzen und einige von uns nur deshalb Nachforschungen anstellen, weil es im System so verankert ist. Wie dem auch sei, wir können nur hoffen, dass unsere Programmierer beim nächsten Retuschieren eines Matrixfehlers keinen Crash verursachen und unser Universum anschließend neu programmiert werden muss, aber vielleicht ist das auch das ein oder andere mal passiert. Schließlich ist kein Computer perfekt.

Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.

Quelle
Die Wachowskis (1999-2003): Die Matrix-FilmreiheSpielberg, Steven (2018): Ready Player OneNolan, Jonathan; Joy, Lisa (seit 2016): WestworldRoth, Veronica (2012-2014): Die BestimmungWeir, Peter (1998): Die Truman ShowLevy, Shawn (2021): Free GuySimulationsargument (Nick Bostrom)

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