AQUILERIA - Sagen & Legenden

NABI UND NOBI

AQUILERIA ist eine mittelalterliche, fantastische Welt voller Geheimnisse und Abenteuer. Eine Welt mit eigenen Landschaften, Königreichen, Kulturen, Religionen und Zeitrechnungen. Eine Welt, in der es ganz besondere Orte, Pflanzen, Tiere und Phänomene gibt, ebenso wie ganz besondere Heldinnen und Helden, die sich nie als solche verstehen und bezeichnen würden. Eine Welt, in der sich die Menschen Geschichten, Märchen, Sagen und Legenden erzählen, die von Dingen berichten, die unvorstellbar, lehrreich, magisch, gruselig oder einfach nur unterhaltsam sind. Eine Auswahl dieser Erzählungen, zusammengefasst unter „AQUILERIA · Sagen & Legenden“, veröffentlichen wir exklusiv hier im Wirsing-Magazin. Sie ergänzen die bisherigen Bücher aus der Feder von Alexander Büttner um eine neue, mythische Komponente.

Eine Geschichte über das, was passiert, wenn stets die Klugen nachgeben und Schweigen als Gold gesehen wird, und über die Ursprünge der gefürchteten, regenbogenfarbenen Naobi-Schlange.

„Gier frisst Hirn.“

Volkstümliches Sprichwort, vermutlich zurückzuführen auf Deywid Zinnentorm, einen Steinmetz und Baumeister.

Es waren einmal zwei Schlangenbrüder, die krochen eines warmen Frühlingstages aus ihrem Nest. Im ersten Licht der warmen Sonne erkannte man, wie sehr sie einander im Aussehen glichen: In ihrer Jugend waren sie noch klein, schlank und von flinker Beweglichkeit, die Schuppen in blassen, farblosen Grautönen gemustert, mit gelben Augen und schwarzen Pupillen, die die Form des Halbmonds hatten. In ihrem Wesen unterschieden sie sich doch sehr: War der eine darauf aus, die Welt sofort zu erkunden und sie sich so untertan zu machen, war der andere von ruhigerem Schlag und zunächst darauf bedacht, in der weiten Welt einen Platz für sie beide zu finden. Eine Mutter, die ihnen einen Namen hätte geben können, kannten sie nicht, und da ihnen sonst nichts anderes übrig blieb, nannten sie sich selbst Nabi und Nobi. Nabi war der ehrgeizige Bruder, Nobi der sanfte.

Sie konnten ihn weder sehen, noch hören, noch riechen, doch die beiden Brüder wussten, dass es in der Nähe einen Teich geben musste, der sie verheißungsvoll anlockte. Sie kannten weder Richtung noch Weite, und doch machten sie sich frohen Mutes auf den Weg, denn einen Vater, der sie vor den Gefahren der Welt hätte warnen können, kannten sie auch nicht. Sie krochen unter knochigen Wurzeln und durch hohes Gras, zwangen sich durch enge Spalten und kantiges Gemäuer, rasteten auf warmen Steinen und kletterten entlang Stämmen und Ästen. Sie fanden eine Wiese und einen Wald, einen Weiler der Menschen und ihre Wege, sie sahen die Schatten der Vögel, die am Himmel kreisten, und hörten das Grunzen und Blöken der Tiere in weiter Flur, und was immer ihnen begegnete, es versetzte sie wie alles Neue in Staunen. Doch während Nobi in Ehrfurcht verstand, wie groß und wunderbar diese Welt sein musste, so wuchs in Nabi immer mehr der Wunsch, nicht alles nur zu kennen, sondern es sein eigen zu nennen und die Dinge allein so geschehen zu lassen, wie es ihm gefiel. Nobi lauschte den Gedanken seines Bruders, doch er schwieg und widersprach ihm nicht, denn er ahnte, dass sein Bruder und sein Wille stark waren. Und Stärke musste schließlich etwas sein, das in dieser Welt von Nutzen und vonnöten war.

So fanden sie schließlich diesen kleinen Teich, in dessen klarem, blauem Wasser und entlang seines Ufers sich den Brüdern eine weitere Welt offenbarte. Sie sahen flinke Fische und dickbauchige Frösche, Libellen in schillernden Farben, bunte Seerosen und hohes Schilf, Weiden, deren Arme ins kühle Nass griffen und Vögel, die auf dem Wasser trieben, darin tauchten und sich sodann wieder von der Sonne trocknen ließen. Es war eine friedliche, muntere Welt, in der alle in Harmonie und Einvernehmen miteinander und voneinander lebten. Nabi, der meinte, dies alles gehöre nun ihnen, stürzte sich in dieses kleine Reich und stillte seinen Appetit und seinen Hunger, bis er müde und träge auf einem Stein zur Ruhe kam und seine Welt für ihren Überfluss lobte.

Nobi bereitete in der Zwischenzeit seinem Bruder und sich in der Nähe ein neues Heim in einer kleinen Höhle, die er in der Zwischenzeit ausfindig gemacht hatte. Zwischen zwei Felsen führte ein Spalt als Eingang in sie hinein; verdeckt war er von tief hängenden Gräsern, die im Wind leise flüsterten, und eine alte Wurzel ragte einer Leiter gleich nach oben, wo die Sonne den nackten Felsen des Tages erwärmte, bis das Wasser in der Nacht ihn wieder kühlte. Nabi befand, dass dies fürs Erste zwar ein brauchbarer Unterschlupf sei. Doch auf Dauer wäre es für sie beide zu klein und sein Bruder würde etwas Besseres finden müssen, denn schon bald würden sie beide zu stattlicher Größe heranwachsen. Nobi, der sich nach dem langen Tag an den Resten dessen, was sein Bruder nicht in Gänze verschlungen hatte, labte, dachte sich seinen Teil, doch er schwieg und widersprach mit keinem Wort. Denn wachsen würden sie, so hoffte er, denn Größe verhalf in der Welt zu Ansehen und Sicherheit, und in beidem musste ihre Bestimmung zu finden sein.

Es vergingen die Jahre, in denen Nabi und Nobi in gleichem Maße wuchsen wie ihre Welt sich um sie herum veränderte. Gesagt werden muss, dass Nobi sich zwar zu einiger Stattlichkeit entwickelte, Nabi ihn darin doch schnell um einiges übertraf. Fraglich ist dies nicht, denn beobachtete man die beiden Brüder in ihrem täglichen Wirken, so wurde eines sehr schnell klar: Gier war es, die Nabi antrieb; unersättlich war er in seinem Appetit, und er vertilgte, so viel er nur konnte. Die Farben seiner Schuppen wurden dabei bunter und prachtvoller, je mehr er verschlang, bis selbst ein Regenbogen vor Neid erblassen musste, und das bestätigte ihn in seinem Appetit umso mehr. Nobis Hunger hingegen war geringer, und was sein Bruder mit Schlingen und Verdauen verbrachte, nutzte der sanftere, nun kleinere der beiden, um die Wogen zu glätten, die von Nabis unbedachter Maßlosigkeit aufgewühlt wurden. Obwohl Nabi in seiner Größe und Stärke den Bewohnern des kleinen Reiches in edlen Worten versprach, dass sie in Sicherheit leben würden, da sich alle Feinde vor seiner Stärke fürchten mussten, wurde ihre Zahl doch immer geringer. Denn was in früheren Tagen ein Nehmen und ein Geben gewesen war, das in seinem Schmerz und seiner Freude ein natürliches Gleichgewicht gefunden hatte, war nun mit Nabis Umfang zu einer Bedrohung herangeschwollen, die sie alle in ihrem Bestehen und Überleben mehr gefährdete als es Räubern von außen möglich gewesen wäre.

Da die Tiere nun aber wussten, dass mit Nobi wiederum gut und verständnisvoll zu sprechen war, wandten sich die Bewohner des kleinen Teiches an diesen Schlangenbruder, und eine Zeit lang gelang es Nobi in seiner Weitsicht auch, mit Versprechungen und Beschwichtigungen den wankenden Frieden zu halten. Doch ging er dann mit warnenden Worten zu seinem Bruder und kündete vom drohenden Unheil, so schimpfte Nabi ihn nur, dass sie nichts zu fürchten brauchten. Denn sie waren es, die stark und groß waren und denen diese Welt gehöre, und sie würden es sein, die als letzte gingen, wenn das Nichts denn käme. Doch wer angesehen war, konnte nicht im Nichts versinken, und angesehen waren sie, als Herrscher dieser kleinen Welt, und damit konnte auch das Nichts sie nicht schrecken. Dieses kleine Reich sollte nur das erste sein, das ihnen untertan geworden war, und weitere würden folgen, so befahl Nabi es in seinem Zorn, denn er ärgerte sich, dass man schlecht über ihn sprach. Nobi nahm dies hin, wie immer in Schweigen, gleichwohl er sich Sorgen machte und längst erkannte, wie träge sein Bruder in seiner Fülle geworden war. Doch er bewunderte und achtete Nabis Mut und Zuversicht, und wenn nun wirklich alles sich gegen sie wenden sollte, was blieb ihnen in dieser, in ihrer Welt am Ende noch außer eben diesem Mut, dieser Zuversicht?

Als all die Fische und Frösche, Libellen, Vögel und Echsen, die Spinnen und die Würmer, die Käfer und die Hasen und die Rehe und alle anderen, die am Teich der Schlangenbrüder lebten, erkannten, dass Nobis Ansinnen zwar richtig, seines Bruder Nabis Wirken jedoch unverändert war, entschieden sie, sich einen anderen Teich suchen und dort ein neues, ein friedliches und gerechtes Leben führen zu wollen. Als Nobi zu Nabi kam und ihm davon berichtete, lachte der riesig gewordene Schlangenbruder müde auf. Denn ein anderes, ein besseres Reich als das seine, das konnte es nicht geben. Der kleine Schlangenbruder beschwor ihn ein letztes Mal, dass ein Besinnen wohl noch möglich und ihre Welt wohl noch zu retten sei, wenn sie denn anerkannten, dass sie wohl Teil, aber nicht Herrscher aller Dinge waren. Ein gezügelter Appetit, ein Miteinander statt eines Gegeneinanders, ein Vertrauen in das Bestreben und das Wirken eines jeden einzelnen, so klein oder so groß er auch sein mochte, würde die anderen Bewohner vielleicht zur Rückkehr bewegen. Das waren Nobis Worte, doch Nabi schnaubte nur. In Verachtung wiederholte er, was er schon so oft gesagt hatte: Dass diese Welt die seine war, und wer darin seinen Platz nicht einnehmen wollte, er dessen auch nicht würdig war – und das dies, in letzter Folge aller Dinge, auch Nobi betraf, sollte er sich von ihm abzuwenden gedenken.

Dies war der Moment, in dem der sanfte und stets besonnene Nobi erkennen musste, dass sein Schweigen all die Jahre ihrem Verderben zugetragen und nicht es etwa abgewendet hatte. Und als dieser Gedanke in ihm keimte und schnell zu blühen begann, erriet der grimmige, gierige Nabi seines Bruders Wandel und verschlang mit seinem gewaltigen Maul die letzte Stimme der Vernunft. Denn eines war Nabi wohl nur zu bewusst: Nobi hatte Recht, sein Reich hatte sein Gleichgewicht verloren, und dies sich einzugestehen und seiner Gier und seinem Streben zu entsagen, war für ihn von sehr viel größerem Schmerz, als seinen Bruder und sich selbst zugrunde gehen zu sehen.

Ohne Nobis Rat und Warnung fand Nabi zu stillem Frieden, und um seinem Bruder zu gedenken, nannte er sich fortan Naobi – ein Name, der ihm einer Schlange von seiner Pracht und seiner Gewalt als angemessen erschien. Und so erlebte die riesige, alles verschlingende Schlange einen letzten Herbst an ihrem Teich, an dem es still und öde geworden war, und zehrte von den Massen, die sie einst verschlungen hatte. Ihre strahlenden Regenbogenfarben verblassten mit jedem Tag ein wenig mehr, und während sie in Sand- und Grautönen der Erdenfarbe immer ähnlicher wurde, gedachte sie allem, dessen sie sich stets verschlossen hatte.

Als der Winter schließlich kam und Naobi sich zwischen den zwei Felsen in die kleine Höhle unter dem traurigen, verdörrten Gras verkroch, fiel er in einen tiefen, letzten Schlaf. In seinem Tod verlor Naobi seine Schuppen, und diese begannen im Frühjahr schließlich zu keimen und zu sprießen. Die aus Naobis Höhle erwachsenden und erblühenden Blumen verwandelten die Ödnis um den kleinen Teich schon bald in ein prachtvolles Farbenmeer, und man erzählt sich, dass ein Regenbogen selbst den heimatlos gewordenen Tieren den Weg zurück an diesen Ort wies, wo neues Leben und neue Geschichten ihren Anfang nehmen konnten.

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Alexander ist Schriftsteller, freier Redakteur, Projektmanager und Verlagsleiter. Aus seiner Feder stammt unter anderem die AQUILERIA-Reihe. Zudem betreibt er zusammen mit Caroline Loße den Buchblog Beardy Books, auf dem er vor allem über Abenteuergeschichten berichtet, die irgendwo zwischen Antike und dem Indiana Jones-Zeitalter der Dreißiger Jahre angesiedelt sind - oder die er im Kinderzimmer seines Sohnes findet. Daneben engagiert er sich für Nachhaltigkeit und den Erhalt von Wildnis- und Urwaldflächen (unter anderem im Rahmen von Wilderness International) und hat ein großes Herz für Crossmedia Storytelling.

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