Ausgabe 5Lagerfeuergeschichten

RASPUTIN

Heiliger Prophet oder teuflischer Mystiker?

Wir schreiben das Jahr 1916. Russland durchlebt eine der dunkelsten Stunden seiner langen Geschichte. Der Krieg ruiniert das Land, die Zarenfamilie kämpft ums Überleben. In dieser Zeit wird ein Mann ermordet, der einst als Wunderheiler am Hof gefeiert wurde. Doch sein guter Ruf ging verloren, die Menschen verteufelten ihn und als er stirbt, fühlt sich das Volk wie von einem Fluch befreit. Doch wie der Mann prophezeit hatte, beginnt nach seinem Tod der Untergang des Russischen Reiches. Wohl kaum eine andere historische Figur hinterließ ein derart zwiespältiges Erbe auf der Bühne der Welt wie Grigori Rasputin.

In der winterlichen Kälte des Jahres 1869 wurde im unwirtlichen Sibirien ein Bauernjunge geboren, fernab von der aufstrebenden russischen Zivilisation. Seine Mutter starb früh, sein Bruder erlag einer Lungenkrankheit und seine Schwester ertrank im Fluss, als sie einen Anfall hatte. So suchte der junge Rasputin Zuflucht im Glauben und wanderte von einer heiligen Stätte zur nächsten. Bis auf den griechischen Berg Athos und in die heilige Stadt Jerusalem sollen ihn seine Pilgerreisen geführt haben. Er wurde von Priestern in göttliche Geheimnisse eingeweiht und betrachtete sich früh als Heiler und Weiser. In seinem Heimatdorf gründete er eine Familie, hielt Predigten und nutzte sein Wissen, um Krankheiten zu kurieren. Er wurde von einigen verehrt, jedoch verschmähten ihn andere als unsittlich, wegen seiner unorthodoxen Glaubensvorstellung, aber auch aufgrund rätselhafter Alkohol- und Liebesexzesse. So verließ er als umstrittene Person den Ort und machte sich auf in die Weltmetropole Sankt Petersburg, der damaligen Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches.

Dort gelangte er rasch in die höchsten politischen und kulturellen Kreise und alsbald verkehrte er auch am Zarenhof und erlangte die Gunst des Herrschers Nikolaj II. Bereits nach kurzer Zeit wurde er als großer Mann Gottes und Wunderheiler gefeiert. Die Kunde über seine Taten verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land. Rasputin wurde zu einer lebenden Legende, zu einer Ikone im Glanz des russischen Zarentums.

Doch so beliebt der Mann aus dem fernen Sibirien auch war, ihn schien eine mysteriöse Aura zu umgeben, die viele Zeitzeugen ähnlich beschrieben. Rasputin war ein hoch gewachsener Mann, der stets einen dunklen Kaftan trug. Rabenschwarzes Haar hing ihm wirr ins Gesicht, sein Bart war ungepflegt und lang. Wenn er sprach, wirkte dies geheimnisvoll und tiefgründig. Sein Blick aus diffusen, grauen Augen war stechend, nahezu erschreckend und unheimlich. Rasputin war ein Mann, der andere in seinen Bann zog.

Für die Zarenfamilie wurde der Mystiker vor allem aufgrund seiner Heilkräfte unverzichtbar, denn nur er schien im Stande zu sein, die lebensbedrohliche Bluterkrankheit des Thronfolgers Alexej, der zu dieser Zeit ein kleiner Junge war, zu beherrschen. Mehrmals kam es zu Unfällen und schlimmen Verletzungen und immer, wenn die Ärzte das Leben des Kindes bereits aufgegeben hatten, erschien Rasputin. Er betete für den Jungen, berührte ihn nicht einmal und nach kurzer Zeit waren die Leiden des Zarensohnes auf mysteriöse Weise verschwunden. Die Mediziner beteuerten meist, dass eine derart rasche Genesung unmöglich sei und so festigte sich Rasputins Ruf als göttlicher Wunderheiler.

In dieser Zeit war der geheimnisvolle Mann ein Dauergast im Palast der Romanows. Führenden Politikern und Adligen wurde er jedoch zunehmend ein Dorn im Auge. Einerseits fürchteten sie im Angesicht des heraufziehenden Krieges seinen wachsenden Einfluss am kaiserlichen Hof, andererseits wurde sein Liebesleben immer ausschweifender und er fiel durch Alkoholeskapaden auf. Für viele war klar, dass er dem Ruf der Zarenfamilie und dem ganzen Reich schadet. Als auch eine öffentliche Hetzjagd in den Zeitungen wenig bewirkte, beschlossen seine Gegner, dass Rasputin beseitigt werden musste.

Eine antimonarchistische Karikatur zeigt das Zarenpaar in den Fängen des „teuflischen“ Rasputin (1916).

Im Jahr 1910 hatten bereits fünf Männer vergeblich versucht, den obskuren Vertrauten des Zaren mit einem Auto zu überfahren. Vier Jahre später, im Sommer 1914, wurde er von einer Frau in seinem Heimatort niedergestochen. Jedoch überlebte er auch dieses Attentat. Auf viele Menschen wirkte der einst zum Heiligen auserkorene Mann immer mehr wie ein widernatürlicher Mystiker. Manchen war längst klar: Rasputin ist ein Diener des Bösen. Als der Krieg zuungunsten Russlands kippte, machten ihn seine Feinde zum Sündenbock einer ganzen Nation. Ein hochrangiger Priester betitelte ihn als heiligen Teufel; der Freund eines mächtigen, jedoch in Ungnade gefallenen Großfürsten brandmarkte Rasputin als abgrundtief böse: „Finstere Kräfte sind es, die das Land regieren und den Willen des Herrschers in Fesseln legen.“

Im Dezember 1916 wurde Grigori Rasputin von Nahestenden der Zarenfamilie ermordet. Laut Aussagen eines der drei Täter versuchten die Männer ihn zunächst mit Kuchen und Wein zu vergiften, was jedoch misslang. So schossen sie ihm dreimal in die Brust und ließen ihn zum Sterben in einem Keller zurück. Wenig später soll Rasputin allerdings auf dem Innenhof des Anwesens aufgetaucht sein. Die Täter ertränkten ihn anschließend im eiskalten Wasser eines Flusses.

Das russische Reich ging alsbald nach Rasputins Tod unter. Immer mehr Bauern und Arbeiter erhoben sich gegen den Zaren, was letztendlich im Bürgerkrieg und der Oktoberrevolution gipfelte. Der Herrscher musste abdanken, während die Bolschewiki die Macht an sich rissen und die Gründung der Sowjetunion auf den Weg brachten. Im Sommer des Jahres 1918 wurde nahezu die gesamte Zarenfamilie von kommunistischen Radikalen ermordet. Und somit bewahrheitete sich eine düstere Prophezeiung des mysteriösen Rasputin, die er zu Lebzeiten mehrere Male gegenüber Nikolaj und dessen Hof kundtat: „Wenn ich sterbe oder wenn ihr mich fallen lasst, werdet ihr euren Sohn und die Krone verlieren.“

Für manche war der Mann aus Sibirien nur ein verrückter Mönch und machthungriger Berater. Andere sahen in ihm einen göttlichen Propheten und Wunderheiler. Doch für viele Menschen bleibt der geheimnisvolle Rasputin ein zwiespältiger Mystiker zwischen diffuser Heiligkeit und finsterem Wahnsinn.

Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.

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