Ausgabe 3Kulturbeutel

SCHILDMAIDEN – DIE MYTHISCHEN KRIEGERINNEN DES NORDENS

„Du Narr! Kein Mann vermag mich zu töten. Jetzt stirb!“
„Ich bin kein Mann!“

Der Hexenkönig von Angmar und Éowyn in Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs (Jackson, Peter; 2003)

Éowyn, die Nichte des Königs von Rohan, steht dem mächtigsten und gefürchtetsten Diener des dunklen Herrschers Sauron gegenüber, blickt dem Tod ins Auge. Der Hexenkönig von Angmar, der sich als unbesiegbar sieht, genießt seine scheinbar grenzenlose Überlegenheit. Doch dann streift sich die tapfere Kriegerin den Helm vom Kopf, gibt sich als Frau zu erkennen und vernichtet den Anführer der Ringgeister endgültig. Somit erfüllt sie nicht nur die uralte Prophezeiung, dass der finstere Hexenkönig durch keines Mannes Hand sterben sollte, sondern macht auch ihrem Beinamen als Schildmaid Rohans alle Ehre.

Im Orchester der männlichen Helden aus Der Herr der Ringe ist Éowyn nicht nur eine willkommene Abwechslung, sondern erweist sich auch als eine der mutigsten Figuren überhaupt. Und durch ihren Sieg über den Obersten der Nazgûl übertrumpft sie die meisten Männer in Mittelerde locker. Nicht nur stellt sie sich dem scheinbar hoffnungslosen Duell mit einem der furchteinflößendsten Wesen jener Welt (selbst gestandene Könige ergriffen nur beim Anblick des Hexenkönigs panisch die Flucht), vielmehr beeinflusst sie die Schlacht um Minas Tirith und somit auch den Ringkrieg wesentlich zugunsten der freien Völker, indem sie den Heerführer Saurons eliminert. Kurzum: Éowyn ist eine unerschrockene Kriegerin und wahre Heldin.

Heldinnen auf dem Schlachtfeld

Daher kommt es nicht von ungefähr, dass J. R. R. Tolkien, der Schöpfer des Herrn der Ringe, Éowyn als Schildmaid bezeichnet. Dieser Titel stammt aus der nordischen Mythologie, wo diejenigen Frauen so genannt werden, die einen Weg als Kriegerin eingeschlagen haben und ihr gesamtes Leben dem Kämpfen widmen.

Die skandinavische Folklore kennt viele Erzählungen über wagemutige Schildmaiden, die zur sogenannten Wikingerzeit im frühen Mittelalter auf den Schlachtfeldern Furcht und Schrecken verbreiteten. Noch heute genießen die mythischen Kämpferinnen einen hohen Stellenwert in den Traditionen der nordeuropäischen Länder. Im Kosmos der nordischen Mythologie werden die Kriegerfrauen glorifiziert und sollen sogar als Vorbild für die Walküren gedient haben, jenen weiblichen Geistwesen, die über das Schicksal der in der Schlacht gefallenen Kämpfer entscheiden. Ursprünglich waren die Walküren lediglich unspezifische Todesengel, die für die Überführung der Seelen von Verstorbenen in die Ahnenwelt verantwortlich waren. Im Laufe der Zeit entwickelten sie sich jedoch weiter. Schließlich entschieden die Walküren nach einer Schlacht, wer unter den Gefallenen ehrenhaft gekämpft und sich als würdig erwiesen hat, um jene Krieger nach Walhalla zu geleiten.

Künstlerische Darstellung von Walküren (Emil Doepler, 1905)

Einige mittelalterliche Völker Nordeuropas brachten die spektakulären Polarlichter mit den Walküren in Verbindung, dahingehend, dass deren glänzende Rüstungen den nächtlichen Mondschein reflektierten. Sobald die Himmelserscheinung am Firmament auftrat, war dies ein Zeichen dafür, dass eine gewaltige Schlacht stattgefunden hat und nun die Seelen der gefallenen Helden von den Walküren ins Jenseits geführt wurden. In ihrer Erscheinung als glorreiche, fliegende Reiterinnen mit mächtigen Waffen und prächtiger Rüstung sind sie in der Tat das überirdische Pendant der Schildmaiden.

Historische Realität oder mythisches Märchen?

Die Legenden von tapferen Schildmaiden und ehrenvollen Walküren sind ein wichtiger Bestandteil der nordischen Mythologie. Und sie haben zahlreiche Figuren der Popkultur beeinflusst, durch welche der Topos der unerschrockenen nordischen Kriegerin auch heute noch weit verbreitet ist.

Neben der bereits erwähnten Éowyn aus Tolkiens Mittelerde-Epos war es in den letzten Jahren vor allem Lathgertha aus der (nicht immer akkuraten) Geschichtsserie Vikings, die sich unerschrocken durch die feindlichen Reihen und in die Herzen der Zuschauer kämpfte. Die historische Existenz der ersten Ehefrau des berühmt-berüchtigten Ragnar Lodbrok gilt jedoch als umstritten, genau wie die ihres Gatten.

Auch andere fiktive Charaktere transportieren die mythischen Schildmaiden und Walküren auf die zeitgenössischen Bildschirme: Brunnhilde alias Valkyrie, die an der Seite von Thor durch das Marvel-Universum fliegt; Eivor Varinsdottir, die kampfstarke Protagonistin von Valhalla, dem neusten Teil der Videospielreihe Assassin’s Creed; oder Alfhildr Enginnsdottir, die zeitreisende – oder besser gesagt transtemporale – Schildmaid (in der Vergangenheit) und Polizistin (in der Gegenwart) aus der norwegischen Sci-Fi-Krimiserie Beforeigners. Bei all dieser kriegerischen Frauenpower stellt sich letztendlich die Frage: Entsprechen die Darstellungen von tapfer kämpfenden Wikingerinnen tatsächlich der historischen Realität oder ist dies alles nur ein Konstrukt, welches zunächst mythologisch überhöht wurde und heutzutage eine gern gesehene Abwechslung in der Popkultur darstellt?

Geschichtswissenschaftler und Archäologen sind sich einig, dass diese Frage nur schwer zu beantworten ist. Jedoch gibt es Indizien, welche die tatsächliche Existenz von hochangesehen Kriegerinnen und auch eine Gleichstellung der Geschlechter im mittelalterlichen Skandinavien nahelegen.

Zum einen wäre da der Zustand des Gebisses mittelalterlicher, nordeuropäischer Frauen. Auf den ersten Blick mag diese Aussage verwirren, doch bei näherer wissenschaftlicher Betrachtung lassen sich einige Hinweise auf die Rollenverteilung in der damaligen Gesellschaft finden. Die Zähne eines (auch bereits seit Jahrhunderten verstorbenen) Menschen weisen charakteristische Schäden auf, wenn zu Lebzeiten Mangelernährung, Krankheiten oder Unterversorgung auftraten. Laura Maravall und Jörg Baten von der Universität Tübingen führten auf Grundlage des Global History of Health Projects eine Vergleichsstudie durch. Sie untersuchten die Skelette von Europäern der letzten 2.000 Jahre und kamen bei der Auswertung der Gebissanalysen zu einem bemerkenswerten Ergebnis:

„Im Europa des späten 8. bis 11. Jahrhunderts und auch danach wiesen Frauen häufiger Zeichen von Mangelversorgung auf als Männer, worin sich ihre niedrigere gesellschaftliche Stellung widerspiegelt. Doch die ländlichen Regionen Skandinaviens bildeten eine Ausnahme von dieser Regel: Dort stellten die Forscher gleiche oder sogar bessere Werte bei den Frauen als bei den Männern fest.“

wissenschaft.de (2019): Wie gleichberechtigt waren Wikingerfrauen?

Während demnach in weiten Teilen des Kontinents Männer und Jungen hinsichtlich Ernährung und Gesundheitsfürsorge bevorzugt wurden, gab es derartige Unterschiede in Nordeuropa kaum oder gar nicht. Dies spricht dafür, dass skandinavische Frauen und Mädchen über einen längeren Zeitraum im Mittelalter als gleichrangig angesehen wurden und eine ähnliche soziale Stellung wie die Männer innehatten.

Grabstätte von Birka

Auch die archäologische Sensation des Birka-Kriegers unterstützt diese These. Im Jahr 1889 entdeckten Forscher im südschwedischen Birka das Grab eines Wikingers aus dem 10. Jahrhundert. Die letzte Ruhestätte der Person war reichlich dekoriert – etliche Waffen und zwei geopferte Pferde legten nahe, dass es sich um einen hoch angesehenen Kämpfer oder sogar Fürsten handeln musste. Doch genauere Untersuchungen des Skeletts in den Jahren 2014 und 2017 offenbarten eine faustdicke Überraschung: die bestattete Person war eine Frau! Und damit änderte sich alles und doch wieder nichts.

Einerseits blieb der Status des verstorbenen Menschen als ranghohes Mitglied der Gesellschaft unangefochten, andererseits konnte damit nachgewiesen werden, dass es auch weibliche Kriegerinnen und Anführerinnen zur Zeit der Wikinger gegeben haben muss. Und diesen wurde offensichtlich der gleiche Respekt wie ihren männlichen Pendants gezollt – im Leben wie im Tod.

Archäologische Funde und geschichtswissenschaftliche Forschungsergebnisse legen nahe, dass Frauen in der mittelalterlichen, skandinavischen Gesellschaft gleichberechtigt und unabhängig waren, auch außerhalb des familiären Umfelds als starke Kriegerin oder ehrenvolle Feldherrin. Die Sagen von Schildmaiden und Walküren könnten demnach mehr sein als nur ein reiner Mythos, nämlich die Widerspiegelung historischer Traditionen.

Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.

Quelle
WissenschaftWeltNational GeographicJackson, Peter (2003): Der Herr der Ringe - Die Rückkehr des KönigsWilkinson, Philip; Philip, Neil (2011): Mythen & Sagen

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