Ausgabe 4Sport ist Mord

SQUID GAME

Ein Blick in die menschliche Psyche

Bereits einen Monat nach Release der südkoreanischen Serie Squid Game erzielte der Neunteiler Einnahmen von knapp 900 Millionen Dollar und wurde dadurch zur erfolgreichsten Netflix-Serie aller Zeiten gekürt! Reiner Zufall? Wohl kaum! Viel mehr stillt die neue Erfolgsserie ein dunkles Verlangen, welches wir Menschen schon seit Anbeginn unseres Daseins verspüren – das Verlangen nach Gewalt.

Doch worum geht es eigentlich in Squid Game? 456 Männer und Frauen, die am unteren Ende der Nahrungskette stehen, werden zu einer großen Gameshow eingeladen, bei der sie durch das Spielen von Kinderspielen ca. 33 Millionen Euro gewinnen können. Was den Teilnehmer*innen vor Beginn der Spiele nicht bekannt ist: nur einer von ihnen wird mit der Summe nachhause gehen, nämlich die Person, die die Kinderspiele überlebt. Wer in einem der Spiele verliert, wird sofort kaltblütig von den maskierten Aufsehern hingerichtet und erhöht dadurch die Gewinnsumme. Es ist somit ein Spiel um Leben und Tod. Ein Sozialexperiment, Gesellschaftskritik und brutaler Thriller vereint mit heiteren koreanischen Kinderspielen. So steht neben Tauziehen und Murmelspielen auch „Rotes Licht, grünes Licht“ bzw. wie man es in Korea nennt „Mugunghwa kkochi pieotseumnida“ auf dem Plan, bei dem die Spieler*innen sich nur dann bewegen dürfen, wenn die singende Roboterpuppe ihnen den Rücken zukehrt. Zudem müssen die Teilnehmer*innen in „Dalgona“ gegeneinander antreten. In diesem koreanischen Kinderspiel müssen die Spieler*innen eine vorgestanzte Form aus einem Dalgona-Keks herausbrechen, ohne diesen zu beschädigen. Wer dabei scheitert, scheidet aus Spiel und Leben.

Die Kombi aus unterhaltsamen Kinderspielen und äußerster Brutalität schlägt ein, das zeigen nicht nur die durch die Serie erzielten Gewinne, auch zahlreiche Adaptionen im echten Leben verweisen auf den Serien-Hype. So machte sich eine Cafébesitzerin in Südostasien den Netflix-Hit zunutze, indem sie eine reale Kopie der Dramaserie schuf. In ihrem Café finden täglich die mörderischen Kinderspiele statt. Die Kellner*innen/Aufseher*innen tragen dabei die ikonischen roten Anzüge sowie die schwarzen Gesichtsmasken und lassen den lauten Knall eines Maschinengewehrs ertönen, sobald jemand eines der Spiele verliert. Blutig hingerichtet wird dabei jedoch niemand. Nicht nur Cafés ändern ihr Design, auch auf Schulhöfen weltweit werden die brutalen Spiele nachgeahmt, was hierzulande schon für etliche Restriktionen und Aufregung unter Eltern und Lehrer*innen sorgte.

Wer jetzt denkt, Squid Game sei ein einmaliges Phänomen, irrt. Denn nicht zum ersten Mal hat die Vereinigung zwischen kindlicher Unschuld und gewaltsamen Abschlachten zum Erfolg geführt. Auch die Trilogie Die Tribute von Panem erreichte mit diesem mörderischen Mix die Spitze der Kino- und Buchcharts. Doch warum genau lassen wir Menschen uns so für blutrünstige Serien, Filme, Bücher und Spiele begeistern? Sind wir alle krank?

Die brutale Wahrheit lautet: ohne Konflikte wäre unser Leben eintönig und welch größeren Konflikt könnte es geben als eine gewalttätige Auseinandersetzung? Es ist kein Geheimnis, dass wir Menschen eine Obsession für Konflikte hegen. Kaum ein Buch oder Film kommt ohne zwei oder mehrere rivalisierende Parteien aus, die die Spannungskurve stetig in die Höhe treiben und das nicht selten durch körperliche Auseinandersetzungen.

Und auch in der Realität lässt sich unser Faible für handgreifliche Streitereien wiederfinden – es bedarf nur einen Blick auf historische und aktuelle Sportarten und Spiele. Die Ritterspiele zählten zu den wohl wichtigsten und zugleich blutigsten Festen des Mittelalters. Während sich Ritter mit scharfen Waffen taktierten und angriffen, stachelten Schaulustige die Kontrahenten durch Zurufe an und jubelten fröhlich, wenn ein Kämpfer von seinem Ross fiel. Gladiatoren wurden zu hervorragenden Kampfmaschinen ausgebildet und bekriegten sich in römischen Arenen um Leben und Tod. Und auch noch heute gehen Sportler*innen bei Wettkämpfen bis aufs Äußerste. So beispielsweise bei dem traditionell italienischen Ballspiel „Calcio Storico“. Das Ziel dieses Spieles ist es, einen Ball in das Tor des Gegners zu werfen oder zu schießen. Um dies zu erreichen, darf jeder Spieler zu jeder Zeit einen anderen Spieler angreifen. „Angreifen“ ist dabei wortwörtlich zu verstehen, denn Regeln existieren keine. Faustschläge ins Gesicht, Tritte zum Körper oder Techniken aus dem Ringen werden nicht nur toleriert, sondern sind ausdrücklich gewünscht. Wer keine Lust verspürt, sich auf dem Sportplatz alle Knochen zu brechen, kann heutzutage auch auf die virtuelle Welt zurückgreifen, denn auch vor dieser macht unser Faible für Brutalität keinen Halt. Resident Evil oder God of War sind an Gewalttätigkeit kaum zu überbieten und erfreuen sich dennoch größter Beliebtheit.

Auch abseits von Sport und Spielen lässt sich Gewalt im menschlichen Miteinander wiederfinden und das in jeder Epoche. So handelt es sich bei gewalttätigen Konflikten auch um eine anthropologische Konstante aller Kulturen und Zeiten. Sie stellt als solche einen wichtigen Motor der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung dar und führt nicht selten zu tiefschürfenden Umwälzungsprozessen. Auch das 21. Jahrhundert ist keine gewaltfreie Zeit. Noch immer werden Interessenkonflikte und kulturelle Differenzen durch gewaltsame Fehden ausgetragen, um Veränderungen zu bewirken.

Zuletzt sind wir Menschen neugierige Geschöpfe. Wir lechzen nach neuen Erfahrungen. Doch die Erfahrung von Gewalt können und wollen wir (zumeist) aufgrund von Tabuisierung, Furcht und Moralvorstellungen nicht einfach machen. Um diesen Teil unserer Psyche, den wir bewusst unterdrücken, dennoch zu befriedigen, suchen wir nach Ersatzerlebnissen. Durch Filme, Computerspiele, Sportarten, Turniere aber auch durch die Netflix-Serie Squid Game erhalten wir genau dies – eine Möglichkeit, unsere Gewaltfantasie auszuleben, ohne dass wir oder andere dabei zu Schaden kommen oder wir unsere Moralvorstellungen über Bord werfen müssen.

Julia ist die Ambivalenz auf zwei Beinen. Sie lebt einerseits mit Dinosauriern und Shakespeare in der Vergangenheit, ihr (seit drei Jahren) fast vollendeter Debüt-Roman spielt jedoch in der Zukunft. Sie wollte eigentlich etwas "Sicheres" studieren und ist jetzt blöderweise im Journalismus gelandet. Dort ist sie ganz nebenbei Mate-abhängig geworden und mit ihrer Tastatur verwachsen.

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