Die USA in den 60er-Jahren: Eine Gruppe Jugendlicher ist in einem quietschgelben Kleinbus auf dem Weg zu einem Open-Air-Konzert. Sie haben Blumen in ihren langen, offenen Haaren, tragen Schlaghosen und bunt bemusterte Hemden… Oder sie harren mit eintönigen, abgenutzten Klamotten, verdreckten Gesichtern und schussbereiten Flinten in einem Kiefernwald, um einen Nazi-Konvoi abzufangen.
Was wäre gewesen, wenn die USA im Zweiten Weltkrieg nicht aktiv in die Geschehnisse auf europäischem Boden eingegriffen hätte? Was wäre gewesen, wenn dadurch die Alliierten den Achsenmächten unterlegen gewesen wären? Was wäre gewesen, wenn das Deutsche Reich und Japan den Krieg gewonnen und die Welt erobert hätten? Die Geschichte wäre ab diesem Zeitpunkt wohl komplett konträr zu unserer Realität verlaufen und statt Flower Power hätte es in den 60er-Jahren in den USA und andernorts wahrscheinlich einen antifaschistischen Widerstandskampf gegeben. Das Werk The Man in the High Castle hat genau dieses alternativhistorische Szenario als Fundament.
Wie der Krieg ablief
Zweifelsfrei zählt der Zweite Weltkrieg zu den entscheidendsten Ereignissen der jüngeren Menschheitsgeschichte – er stellt gar eine historische Zäsur dar. Der Beginn des Konflikts aus europäischer Sicht kann auf das Jahr 1939 und den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen datiert werden. Zeitgleich wurde das Land vom Osten her von der Sowjetunion attackiert und schließlich unter den beiden Großmächten aufgeteilt. Da Polens Unabhängigkeit von Großbritannien und Frankreich garantiert wurde, erklärten die beiden Staaten dem Deutschen Reich den Krieg, ohne jedoch direkt einen Angriff zu starten. Adolf Hitler setzte seinen Feldzug fort und eroberte Norwegen, Dänemark, die Benelux-Staaten und schließlich Frankreich bis zum Sommer 1940.
Italien unter dem faschistischen Diktator Benito Mussolini trat zur selben Zeit als Verbündeter Hitlers in den Krieg ein und begann einen wenig erfolgreichen Feldzug in Nord- und Ostafrika gegen die britischen Kolonien. 1941 brachten die Achsenmächte zunächst die Balkanregion unter ihre Kontrolle, bevor Hitler der Sowjetunion den Krieg erklärte. Dieser anfangs vielversprechende Feldzug endete in einem Debakel für die Wehrmacht – Stichwort Stalingrad – und stellte einen entscheidenden Wendepunkt für den Ausgang des globalen Konflikts dar.


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Noch im selben Jahr, am 7. Dezember 1941, ereignete sich im Pazifik ein weiterer wegweisender Moment. Im September 1940 hatten sich die europäischen Achsenmächte Deutschland und Italien mit dem Kaiserreich Japan verbündet, welches bereits seit 1937 einen Krieg im indopazifischen Raum führte und große Gebiete erobern konnte. An jenem 7. Dezember attackierten die Streitkräfte Japans den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii und fügten der USA eine empfindliche Niederlage zu. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Franklin D. Roosevelt hatten zwar bis zu diesem Zeitpunkt Großbritannien und die europäischen Alliierten mit Waffen und Munition beliefert, hielten jedoch faktisch an ihrer verfassungsmäßigen Neutralität fest. Der Angriff auf Pearl Harbor veranlasste die USA jedoch, aktiv in den Krieg einzutreten. Somit wurden schließlich die Schauplätze Europa, Nordafrika und Ostasien zu einem globalen Konflikt vereint.
In der Folge verlor die Wehrmacht in Osteuropa immer mehr an Boden und die Landung der amerikanischen Truppen an der Küste der Normandie am legendären D-Day (6. Juni 1944) läutete endgültig die Niederlage der Achsenmächte ein. Bereits 1943 war Italien als Verbündeter Hitlers aus dem Krieg ausgeschieden, im Mai 1945 kapitulierte schließlich auch das Deutsche Reich bedingungslos, nachdem die Streitkräfte in den Monaten zuvor an allen Fronten rasch zurück gedrängt wurden und die Schlacht um Berlin verloren war.


Im asiatischen Raum konnte das US-Militär ebenso Land gewinnen und Japan schrittweise in die Knie zwingen. Die traurigen Höhepunkte dieses Kriegsschauplatzes waren die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki am 6. bzw. 9. August 1945, die letztendlich in der Kapitulation Japans und dem Ende des Zweiten Weltkrieges resultierten.
Wie der Krieg hätte ablaufen können
Die Haupthandlung des Romans The Man in the High Castle (1962, dt.: Das Orakel vom Berge) des amerikanischen Autors Philip K. Dick und der gleichnamigen Amazon-Serienadaption (2015-2019) spielt in den USA der frühen 60er-Jahre. Das Land ist zu diesem Zeitpunkt aufgeteilt in drei Gebiete: der Osten wird vom faschistischen Großdeutschen Reich regiert, der Westen vom kaiserlichen Japan. In der Mitte, ungefähr entlang der Rocky Mountains, befindet sich eine neutrale Zone. Zu dieser politischen Situation kam es, da anstelle der Alliierten die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg für sich entscheiden konnten und infolge dessen den Globus untereinander aufteilten. Doch wie kam es zu diesem alternativen Szenario? Welche Ereignisse liefen anders als in der Realität ab?


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Der Divergenzpunkt (Ereignis der Abweichung) zwischen jener und unserer Welt liegt bereits im Jahr 1933, also einige Jahre vor dem eigentlichen Ausbruch des Krieges. Am 15. Februar versuchte Giuseppe Zangara den designierten US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt 17 Tage vor dessen Amtseinführung in Miami zu erschießen. In der Realität scheiterte Zangara, in der fiktiven Zeitschiene von The Man in the High Castle war das Attentat erfolgreich. Statt Roosevelt regierten in der Folge John Garner und John Bricker die USA, was in der Destabilisierung des Landes und einer Verschlimmerung der Großen Depression (Great Depression) mündete. Die Vereinigten Staaten waren demnach nicht in der Lage, diese dramatische Wirtschaftskrise zu überwinden und der New Deal (ökonomische und soziale Reformen, die in unserer Welt den Wendepunkt der Krise darstellten) wurde nie durchgesetzt.
Als der Krieg in Europa ausbrach und eskalierte, waren die wirtschaftlich angeschlagenen USA nicht in der Lage, Großbritannien, Frankreich und später die Sowjetunion zu unterstützen. Auch das eigene Militär musste aufgrund des desolaten Staatshaushaltes vernachlässigt werden. Der japanische Angriff auf den geschwächten Stützpunkt Pearl Harbor war deshalb sowohl direkt als auch indirekt wesentlich wirkungsvoller. Nahezu die komplette amerikanische Flotte wurde vernichtet, woraufhin Japan die Vorherrschaft im Pazifik erlangte und Hawaii, Australien, Neuseeland sowie Ozeanien erobern konnte.
Da die USA den Alliierten weder mit Waffen noch mit Soldaten helfen konnten, gelang es dem Deutschen Reich, die Sowjetunion zu erobern und Großbritannien zur Kapitulation zu zwingen. Nach dem Ausschalten der stärksten Alliierten unterwarfen Deutschland und Japan schrittweise Süd- und Mittelamerika, die Karibik und Kanada, bis es schließlich auch zu einer Invasion der USA kommen sollte. Die Wehrmacht fiel an der Atlantikküste, die japanischen Streitkräfte an der Pazifikküste ein. Am 11. Dezember 1945 kapitulierten schließlich die USA als letzter Gegner der Achsenmächte, nachdem das Deutsche Reich eine Atombombe über Washington D.C. abgeworfen hatte. Der anschließende Guerilla-Krieg gegen den lose organisierten Widerstand zieht sich bis in die aktive Handlung der 60er-Jahre und ist prägendes Element des Werkes.


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Zwei Welten zwischen Gut und Böse
Klammert man die Science-Fiction-Elemente von The Man in the High Castle einmal aus (denn in der Tat kann das Werk aufgrund bestimmter Handlungsstränge in dieses Genre eingeordnet werden), zeichnen Buch und Serie eine düstere und hoffnungslose Version unserer Welt nach 1945. Mit eiserner Hand regieren Faschisten und Autokraten die Erde. Hitler und seine Nachfolger errichten sich in Deutschland ein ewiges Germania in voller Pracht. Das japanische Kaiserreich entwickelt sich zum repressiven Überwachungsstaat.
Häufig wird der Zweite Weltkrieg zum Kampf zwischen Gut und Böse stilisiert. In der Realität hat hauptsächlich die westliche Welt vom Sieg der (guten) Alliierten profitiert – in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Sicht. Europa konnte zunächst größtenteils befriedet und demokratisiert werden. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Denken wir mal an die politischen und ethnischen Säuberungen unter Josef Stalin, den anhaltenden strukturellen Rassismus im Nachkriegsamerika oder den Kalten Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, welcher die Erde fast in den nächsten globalen Konflikt gestürzt hätte und auch heute noch – ganz aktuell in der Ukraine-Krise – seine Schatten auf die Geopolitik unseres Planeten wirft.
Jedoch ist es leicht vorstellbar, dass es um die Menschheit nach einem Erfolg der (bösen) Achsenmächte derart schlimm bestellt wäre, wie es bei The Man in the High Castle dargestellt wird. Die restriktiven Systeme der Achsenmächte begingen die grausamsten Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte, gipfelnd in der systematischen Vernichtung gesamter Volksgruppen. Und in der aktiven Handlung des Sci-Fi-Historien-Werkes, den 60er-Jahren, liegt übrigens ebenso ein Atomkrieg zwischen den Großmächten Deutschland und Japan in der Luft.
In der Geschichtsschreibung ist es nahezu unmöglich, bestimmte Ereignisse oder Fraktionen in die beiden Extreme Gut und Böse einzuteilen. Es gibt schließlich immer Grauzonen. Doch das Werk The Man in the High Castle liefert einen interessanten Beitrag, indem es die politischen und ideologischen Quintessenzen der im Zweiten Weltkrieg beteiligten Lager in einem alternativhistorischen Setting verarbeitet und so deren Gegensätzlichkeit aufzeigt.
Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.