Ausgabe 2Leitartikel

WARUM GAB ES KEINEN FORTSCHRITT IN MITTELERDE?

Im ersten Jahr des Ersten Zeitalters der Sonne erwachten die Menschen im Lande Hildórien. Von dort breiteten sie sich aus und bevölkerten schließlich alle Länder Mittelerdes. Nach dem Sieg über Sauron im Ringkrieg und dem Anbeginn des Vierten Zeitalters existierte die Art der Menschen, also die Zweiten Kinder Ilúvatars, bereits seit über 7.000 Jahren – die Elben und Zwerge sogar noch länger.

Dennoch hatte es in dieser gigantischen Zeitspanne kaum technologische Innovationen beziehungsweise Fortschritt gegeben – Pferde dienten zur Fortbewegung, Bögen und Klingen als Waffen im Kampf. Zum Vergleich: Vor circa 7.000 Jahren begann in unserer Welt die Bronzezeit, das Rad gab es noch nicht und es sollte auch noch 1.000 weitere Jahre dauern, bis das Alte Ägypten entstand. Wenn man sich vorstellt, was die Menschheit in diesen sieben Jahrtausenden erreicht hat, stellt man sich natürlich die Frage, warum sich in Tolkiens Welt vergleichsweise wenig bis nichts veränderte.

Die allerersten Menschen Mittelerdes wurden in eine Zeit hineingeboren, die mit unserem Mittelalter zu vergleichen wäre. Innerhalb kürzester Zeit schmiedeten sie Waffen und Rüstungen aus Eisen, Häuser und Festungen vermochten sie mit Stein zu bauen und als Fortbewegungsmittel dienten Pferde und Kutschen. In den letzten 7.000 Jahren erfanden wir Fortbewegungsmittel, die vom Rad bis zur Weltraumtechnologie reichten, während es in Tolkiens Welt mit Pferdewagen begann und sich seitdem nichts mehr änderte. Warum war das so und änderte es sich im Vierten Zeitalter?

Während die Menschen in Mittelerde in über 7.000 Jahren nicht über Pferde und Kutschen als Fortbewegungsmittel hinaus kamen…
…erfanden wir in der Realität bahnbrechende Technologien bis hin zum Space Shuttle.

Wann treten technische Neuerungen auf?

Es gibt in der Regel zwei Gründe, die meistens für technologische Errungenschaften verantwortlich sind: Erstens – ein neuer Stoff oder ein neues Element wird entdeckt, welches dazu genutzt werden kann, um bereits bestehende Technologien zu verbessern. Ein Beispiel wäre hier die Entdeckung von den ersten Metallen, wie Kupfer und Zinn, mit denen die Menschen der Steinzeit ihre primitiven Werkzeuge verbesserten.

Der Zweite Grund beschreibt das Auftreten eines Problems, welches eine Gesellschaft dazu zwingt, neue Technologien zu erfinden und einzusetzen. Das wären zum Beispiel Hungersnöte bei wachsenden Bevölkerungszahlen, die dazu führen, dass die Nahrungsbeschaffung, also Ackerbau und Viehzucht, effizienter und ertragreicher gestaltet werden müssen. Andere Beispiele wären Kriege oder miteinander konkurrierende Gesellschaften, die mittels neuer und besserer Innovationen versuchen, die jeweils anderen zu übertrumpfen. Oft ist es aber auch eine Kombination aus diesen Faktoren – dem Zwang nach neuen, besseren Möglichkeiten, die ein immer weiteres Fortschreiten in der Technologie garantieren.

Technischer Fortschritt in Tolkiens Welt

Im Gegensatz zur realen Welt gibt es in Mittelerde einen entscheidenden Unterschied, der sich erheblich auf technologischen Fortschritt auswirkt: Magie. Sie ist tief im Wesen vieler Arten und Völker Mittelerdes verankert. Elben nutzen sie, ebenso die Zwerge und einige der Hohen Menschenvölker. In Tolkiens Werken ist die Magie der guten Völker, speziell die der Elben, ein Gegenteil der Technologie. In anderen fiktiven Welten mag das anders sein, aber bei Tolkien ist es ein Ding der Unmöglichkeit, Magie und Technologie gleichermaßen zu gebrauchen, ohne dem Bösen zu verfallen.

So ist die Magie der Elben kunstvoll, sie funktioniert aber müheloser, schneller und vollständiger als gewöhnliche Methoden. Diejenigen, die über keine magischen Kräfte verfügen, können jedoch oft zum selben oder einem ähnlichen Ziel kommen, wenn sie genügend Maschinerie oder Sklaven besitzen. Wichtig ist hierbei zu erwähnen, dass laut Tolkien beide Dinge, also Technologie und Sklaventreiberei, häufig ein und dasselbe sind – dem Bösen angehörig. Man kann demnach sagen, dass der technische Fortschritt vieler Völker in weiten Bereichen durch Magie und Zauberei ersetzt beziehungsweise ergänzt wurde.

Besonders gut kann dies am Beispiel der Elben verdeutlicht werden. Sie waren immun gegen alle Krankheiten des Körpers und konnten durch ihre Magie in kurzer Zeit atemberaubende Dinge erschaffen, für die man sonst monate- oder jahrelang hätte arbeiten müssen. Zudem verfügten sie auch über die Kraft der Telepathie, der Kommunikation mittels Gedanken. Auf andere Technologien waren sie somit nicht angewiesen. Auch die sehr starke Naturverbundenheit der Elben in Verbindung mit ihrer Unsterblichkeit machten neue Technologien für sie ziemlich unattraktiv. So bringen diese immer die Zerstörung der Natur mit sich – eine Erschwernis, welche die Elben nicht eingehen müssen. Immerhin haben sie tatsächlich alle Zeit der Welt.

Doch warum gab es dann keine magischen Neuheiten im Laufe der Zeitalter? Die größten Errungenschaften von Elben und Zwergen wurden in den Ältesten Tagen geschaffen und blieben bis in alle Ewigkeit unübertroffen. An dieser Stelle kommt ein weiterer Faktor ins Spiel.

Lehren durch die Götter

Als das Universum geschaffen wurde, stiegen viele göttliche Geschöpfe, hernach als die Valar und Maiar bekannt, auf die Erde herab und bauten diese für die Ankunft der Elben und Menschen auf. Diese Geschöpfe sind die Ainur, Wesen, die schon vor der Zeit selbst existierten – unvorstellbar weise und mächtig.

An vielen Stellen griffen sie in die Geschicke der Elben, Menschen und Zwerge ein, lehrten sie viele Dinge und brachten ihnen viel Neues bei. So zog der größte Teil der Elben ins Segensreich und wohnte Seite an Seite mit den Valar und Maiar. Die Zwerge wiederum lernten von dem Vala Aule, ihrem Erschaffer, und die Menschen hörten einerseits oftmals auf die Worte der Dunklen Herrscher, Melkor und Sauron, und bekamen andererseits Wissen von den Hochelben vermittelt und auch von einigen Maiar. Keine dieser drei Arten hätte allein solche Wissenschaft erlangen können.

Diejenigen, die die Lehren der Valar und Maiar vernahmen, wurden somit an Fähigkeiten und Macht bereichert, doch komplett verstehen konnten sie diese Dinge oftmals nicht. Das Wissen, das sie somit erlangten, konnten sie folglich oft nicht vollständig weitergeben. Dennoch gab es über eine lange Zeit hinweg für die Menschen, speziell für die des Westens, keinen Grund für technische Innovationen. Erst mit dem Schwinden der Elben, über das Zweite und Dritte Zeitalter hinweg, verblasste auch die Magie in Mittelerde und ließ schlussendlich Platz für andere Herangehensweisen – also technologische Neuerungen.

Der Untergang großer Zivilisationen

Man kann nicht behaupten, dass es in Mittelerde keinen Fortschritt gegeben hat – technisch oder magisch sei dahingestellt. Denn die Kulturen, die zur Zeit des Herrn der Ringe in Mittelerde existierten und sich scheinbar seit tausenden Jahren kaum veränderten, waren zu diesem Zeitpunkt alle auf einem Tiefpunkt ihrer einstigen Macht und Größe. Viel Wissen und Können, das einst existierte, war durch den Untergang früherer Zivilisationen für immer in Vergessenheit geraten – ein Vorkommnis, das man auch zur Genüge in unserer Geschichte finden kann.

Auch in unserer Welt gingen in den letzten Jahrhunderten und -tausenden zahlreiche Hochkulturen zugrunde, wie etwa jene der Maya. Das Bild zeigt die Pyramide von Chichén Itzá in Yucatán/Mexiko.

Betrachtet man zum Beispiel die Menschen: Im Ersten Zeitalter lebten die Edain, die Menschen des Westens, sehr eng mit den Elben zusammen. Von ihnen lernten sie viele Dinge und bekamen Antwort auf viele Fragen. Auch in Sprache, Kultur und Lebensweise glichen sie sich dem Unsterblichen Volk an. Dies und die ewigen Kriege gegen Melkor veränderten somit größtenteils ihren Fortschritt.

Im Zweiten Zeitalter gründeten diese Menschen ihr Königreich Númenor – das größte und fortschrittlichste aller Zeiten. Die Númenorer waren weise, mächtig, gelehrt in vielen Wissenschaften und an Geisteskräften beinah den Elben gleich. Von diesen bekamen sie viele Dinge, unter anderem Palantíri, Sehende Steine, geschenkt und im Schiffsbau und der Segelfahrt erlangten sie große Fortschritte. Die meisten ihrer Innovationen und Errungenschaften sind jedoch unbekannt und werden in Tolkiens Schriften nicht genau beschrieben. Und als die Insel Númenor zerstört wurde, ging auch der allergrößte Teil des Wissens für immer verloren. Die Überlebenden gründeten die Reiche von Arnor und Gondor.

Während das erstere bald verfiel, überdauerte Gondor das gesamte Dritte Zeitalter und erlebte ab dem Jahre 1050 eine goldene Blütezeit. In jenen Tagen soll es in all seiner Pracht und seinem Glanze an Númenor erinnert haben und war dennoch nur ein kleines, flüchtiges Abbild – und das, obwohl die Edelsteine zuhauf als Spielzeug der Kinder auf den Straßen herumlagen. Seither ging Gondors Macht und Reichtum bis zum Ende des Ringkrieges stetig zurück – und somit auch viel Wissen um Dinge, die einst selbstverständlich waren.

Die Zwerge erlitten über die Zeitalter hinweg ein ähnliches Schicksal. Einst waren sie von Aule, dem Vala des Handwerks, unterrichtet worden. Im Ersten Zeitalter erfuhren die Zwerge der Blauen Berge zudem viel Wissen von der mächtigen Maia Melian, was ihnen sehr zugute kam. Am Ende dieses Zeitalters jedoch fielen bei den Auswirkungen des Kriegs des Zorns die beiden großen Zwergenstädte der Blauen Berge in Trümmer – Nogrod und Belegost.

Viele Zwerge, die einst dort gelebt hatten, zogen sodann nach Khazad-dûm und bereicherten das Volk Dúrins mit ihrem Wissen. So erreichte jene Zwergenstadt den Höhepunkt seiner Macht und seines Reichtums. Zweifelsohne verfügten sie auch über verschiedene Technologien, mit deren Hilfe sie Bergbau und Schmiedewerk antrieben. Doch all dies und das gewaltige Wissen der Zwerge ging fast vollständig verloren, als sie den Balrog aufweckten und Khazad-dûm infolgedessen im Dritten Zeitalter unterging. So erzählen auch die Zwerge Erebors, dass sie einfach nicht mehr das Können haben, um die legendären Rüstungen und Panzer von einst zu schmieden.

Tolkiens Einstellung zu technischem Fortschritt

Tolkien selbst war kein großer Freund von neuen Technologien und der Industrialisierung im Allgemeinen. Er hasste Maschinen, die als Preis den Rückgang und die Zerstörung der Natur forderten – den Verbrennungsmotor an erster Stelle. So schreibt er zum Beispiel in seinem Brief Nr. 75 an seinen Sohn Christopher:

„Anders als die Kunst […] versucht sie (die Maschinerie), Wünsche zu erfüllen und damit Macht in dieser Welt hervorzubringen; […]. Die arbeitssparende Maschinerie erzeugt nur eine endlose und noch schlimmere Arbeit. Und zu dieser fundamentalen schöpferischen Unfähigkeit kommt noch der Sündenfall hinzu, der unsere Kniffe nicht nur hinter den Wünschen zurückbleiben, sondern sie sich auch zu einem neuen und grauenvollen Übel zuwenden lässt.“

Tolkien, J. R. R.; Carpenter, H.; Tolkien, C. (1981): The Letters of J. R. R. Tolkien.

Sprich: Alle technischen Erfindungen und Kenntnisse kann und wird man zu zerstörerischen und kriegerischen Zwecken nutzen und sie somit in Verruf bringen. An einer anderen Stelle beschreibt Tolkien auch Flugzeuge als Mordor-Spielzeuge, also seiner Meinung nach als ein Werk des Bösen. Doch wie setzte Tolkien das in seinen Werken um?

Technologie und Maschinerie sind in Tolkiens Werken Ausgeburten des Bösen. Sie sind Mittel und Zweck von Tyrannen und dienen ausnahmslos dazu, Macht und Kontrolle über andere zu erlangen. Von der Dunklen Seite wurden sie eingesetzt – von Melkor, Sauron, Saruman und ihren Dienern, den Orks. Immer hatte dies eine zerstörerische Wirkung auf die Natur und die Umgebung.

Wenn man also keine Tyrannenherrschaft und keine Kontrolle über andere wünschte, setzte man auch keine Maschinen ein. Das lässt sich sehr gut bei Saruman beobachten, der zu Anfang gut war – ein Lehrer und Helfer der Menschen. Doch als er allmählich der Dunklen Seite verfiel, Macht und Herrschaft fordernd, begann er, das idyllische Isengard in ein dreckiges Fabrikgelände voller Maschinen zu verwandeln, um seine Pläne durchzusetzen.

Bei den Númenorern war es ebenso. Zuerst waren sie gütig zu den Menschen Mittelerdes und halfen ihnen, sich aus dem Joch Saurons zu befreien. Doch als sie immer gieriger nach Besitz, Reichtum und Kontrolle wurden, so schreibt Tolkien in seinem Brief Nr. 131, begannen auch sie, Maschinerie und Technologie zu bauen und einzusetzen.

Technologischer Fortschritt im Vierten Zeitalter

Wie bereits erwähnt, nahm mit dem Schwinden der Elben auch die Magie in Mittelerde immer weiter ab. Das Vierte Zeitalter markierte somit den Beginn der Herrschaft der Menschen. Denn sie allein blieben letzten Endes von allen sprechenden Arten in Mittelerde übrig. Magie und Wissenschaft waren verloren gegangen, ebenso das Wissen um die Valar, Elben und all die fantastischen Dinge, die Mittelerde einst zu bieten hatte. Aus diesem Grund wird also in Mittelerde eine neue Zeit beginnen – die der technischen Innovationen. Ob es im Vierten Zeitalter oder erst in einem späteren so weit ist, ist dabei natürlich unklar.

Dieser Artikel erschien am 03.05.2021 als Video auf dem Youtube-Kanal Mythen aus Westernis. Hier geht es zum Video.

Ein Kanal, sie zu knechten...
Wir (Philipp, Danny und Maurice) sind Mythen aus Westernis. Tolkiens Legendarium ist unsere Welt.
All unser Wissen, Können und unsere Leidenschaft setzen wir daran, die Geschichten um Arda so zu verbildlichen, wie sie es verdient haben.

Quelle
Tolkien, J. R. R. (1954/1955): Der Herr der RingeTolkien, J. R. R. (1937): Der HobbitTolkien, J. R. R.; Tolkien C. (1977): Das SilmarillionTolkien, J. R. R.; Tolkien, C. (1983-1996): The History of Middle-earthTolkien, J. R. R.; Carpenter, H. (1981): The Letters of J. R. R. Tolkien

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert