Ausgabe 7Flag Fact

ZWEI FLAGGEN, ZWEI ERDTEILE, EIN FABELWESEN

Im ersten Leitartikel dieser Ausgabe haben wir gelernt, dass Drachen in den verschiedensten Kulturen unserer Erde sehr populär sind. Vor allem das mittelalterliche Europa und der Ferne Osten sind für ihre Vorstellungen dieser mythischen Kreaturen bekannt, auch wenn sie im Detail unterschiedlicher nicht sein könnten. Da überrascht es auch nicht, dass ausgerechnet in diesen beiden Gegenden die einzigen Landesflaggen mit einem Drache als Wappentier existieren.

Da wäre einerseits die Flagge von Wales, einem Landesteil des Vereinigten Königreiches, und andererseits die Flagge von Bhutan, einem Königreich in Südostasien inmitten des Himalaya. Die oft als Red Dragon bezeichnete walisische Fahne zeigt einen roten Drachen nach europäischem Vorbild auf einem horizontal geteilten, weiß-grünen Grund – den Farben des aus Wales stammenden Adelsgeschlechts der Tudors, die zwischen 1485 und 1603 auf dem Thron Englands saßen. Die Flagge Bhutans ziert ein weißer, flügelloser Drache chinesischer Art, was auf den eigentlichen Staatsnamen Druk Yul zurückgeht, was so viel wie Land des Donnerdrachens bedeutet. Der Hintergrund der Fahne besteht in diagonaler Teilung aus den Farben safrangelb und orangerot. Ersteres symbolisiert die königliche Hoheit des Monarchen (der den epischen Titel Drachenkönig trägt), letzteres die vorherrschende Religion des Buddhismus.

Die walisische Flagge geht auf eine mittelalterliche Sage zurück. Es wird überliefert, dass in einer Höhle unter einem Berg ein roter und ein weißer Drache hausten, die regelmäßig gegeneinander kämpften. Dieses Kräftemessen wird in der Legende als Kampf zwischen der keltischen Bevölkerung Großbritanniens, zu denen auch die Waliser gehören, und den Angelsachsen gedeutet, die ab dem 5. Jahrhundert auf die Insel kamen und sich dort mehr oder weniger aggressiv ausbreiteten. Der rote Drache, der die Kelten symbolisiert, war zwar eigentlich schwächer, wurde jedoch mit jedem Aufeinandertreffen stärker und besiegte in der Sage letztendlich seinen Gegner. Tatsächlich konnte sich Wales, anders als England, gegen die angelsächsischen Invasoren erfolgreich zur Wehr setzen und wurde nie von deren Streitkräfte erobert.

Der Drache in der bhutanischen Flagge erinnert an das alte, kaiserlich-chinesische Emblem. Bereits seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert galt das Fabelwesen als Symbol für das Reich der Mitte und deren Herrscher. Das Banner der zwischen 1644 und 1912 regierenden Qing-Dynastie zierte ein blau-roter Drache und etablierte wohl endgültig die untrennbare Verknüpfung zwischen dem Chinesischen Kaiserreich und der mythischen Kreatur. In Bhutan hielt der Drache wahrscheinlich durch die Einführung des Buddhismus im 8./9. Jahrhundert Einzug. Die Legenden besagen, dass jeder Donner, den man in der Gebirgslandschaft Bhutans zu hören bekommt, die Stimme eines Drachen sei. Auf dieser Sage basiert schließlich die Flagge des Staates und der Eigenname Land des Donnerdrachens.

Wäre auch ein gutes Flaggenmotiv: der gefiederte Schlangengott der Azteken, Quetzalcoatl.

Dass Europa und Ostasien die Hotspots von Drachenmythen sind, haben wir bereits geklärt. Neben den Flaggen von Wales und Bhutan gibt es in diesen Gegenden der Erde noch zahlreiche weitere Fahnen und Wappen auf regionaler Ebene, auf denen ein Drache prangt, so auch bei vielen deutschen Städten der Fall. Doch nur weil es in anderen Teilen unserer Welt keine Drachenflaggen gibt, heißt das nicht, dass dort keine Legenden über jene Wesen existieren. Tatsächlich sind Sagen über drachenartige Kreaturen auch weit über die „klassischen“ Regionen hinaus verbreitet. So sind der aztekische Hauptgott Quetzalcoatl und dessen Maya-Pendant Kukulkan einer gefiederten Schlange nachempfunden, im Hinduismus wird Vritra, der Widersacher der Götter, als Drache dargestellt und in Polynesien und auf Hawaii tauchen in der Mythologie drachenartige Naturgeister auf – alle diese Wesen haben es nur leider nicht auf eine der hiesigen Flagge geschafft.

Christopher stammt von den Hängen des Erzgebirges, suchte jedoch beizeiten das Abenteuer in der großen Stadt. Seit Kindertagen interessiert er sich für die Länder, Kulturen und Sprachen dieser und anderer Welten. Heraus kamen ein Ethnologie-Studium in Leipzig, die Begeisterung für Tolkiens Werke und ein Plüsch-Chewbacca auf der Couch.

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